2/2: Verteidigung mit Schicksal ist etwas albern
Warum Scheele nicht frontal mit dem Schuldprinzip ins Gericht geht, mag – neben der unbefriedigenden rechtswissenschaftlichen Diskussion zum freien Willen – mit einem Problem zu tun haben, das der Rezensent der Kürze wegen etwas kalauerhaft skizzieren möchte:
Sagt der Angeklagte zum Richter: "Obwohl ich den objektiven Tatbestand nicht bestreite und auch gerne glaube, dass ich nach §§ 20, 21 Strafgesetzbuch voll schuldfähig war, hat die theologische, philosophische sowie neurobiologische Beweisführung ergeben: Weder zum Zeitpunkt der Tat noch jetzt hatte und habe ich einen freien Willen. Sie können mich die Zufälle meines Gehirns nicht haftbar machen."
Antwortet der Richter: "Diese Beweisführung scheint mir wirklich sehr plausibel. Sicher wird es Sie trösten: Wenn ich Sie nun verurteile, was ich beabsichtige, tue ich das auch nicht aus freiem Willen, sondern weil mein Richterhirn neurobiologisch nun einmal darauf trainiert ist, einen Angeklagten bei Vorliegen dieses objektiven Tatbestands zu verurteilen, solange mir kein Gutachter erklärt, dass dieser zum Tatzeitpunkt ganz absonderlich gestört war – wir hätten uns die Beweisaufnahme mit Philosophen und Quanten-Hexen also auch sparen können."
Schuldprinzip: Kakao für Strafrechtsunterworfene
Wie diese etwas kalauernde Anekdote vielleicht belegt: Es gibt keinen geraden Weg von der Einsicht in die universale Unterworfenheit des Menschen unter ein dem Willen entzogenes Schicksal hin zur strafrechtlichen Entschuldigung im Einzelfall. Richter sind keine Götter, ihr Gehirn ist prinzipiell ebenso determiniert wie das der justizunterworfenen Bürger.
Scheele schlägt diesen kurzen Schluss nicht vor, wenngleich seine Belege für die relative Unfreiheit und Zufallsgebundenheit des Menschen womöglich verführen, ihn selbst zu ziehen. Was Scheele allerdings – in einer Form, die sich unterhaltsam und eingängig liest – nahelegt, ist der Gedanke: Man möge die strafrechtliche Schuld nicht mehr als jenen Kakao sehen, durch den sich der Delinquent möglichst reuig selbst zu ziehen habe, eher als das Lametta, mit dem sich eine – statistisch betrachtet – höchst ungerechte Strafjustiz gelegentlich schmückt.
Fast-Exit-Schuldproblem: Restorative Justice
Scheele plädiert denn nicht für ein Ende des staatlichen Strafens – haltlos wäre dies schon wegen der biologisch belegten Lust des Menschen an Rache –, sondern für eine "Restorative Justice", die Täter, Tatgeschädigte und Staat in einer "allseitigen Anstrengung zur Wiedergutmachung oder gar Verbesserung der Lebensumstände" zusammenbinden möchte.
Solch poetischen Gedanken voran gehen handfestere Überlegungen: Lässt sich, von einem harten Kern wirklich gefährlicher Menschen abgesehen, die von den Insassen deutscher Gefängnisse aufgebrachte Lebenszeit nicht gesellschaftlich sinnvoller verwenden? Beispielsweise ist bereits der elektronisch gefesselte Hausarrest nützlicher als die JVA, weil er das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Ersttätern und Gewohnheitsverbrechern verhindert.
Was spräche dagegen, wollte das Land Berlin seinen staatlichen Strafanspruch gegenüber kiffenden Schwarzfahrern dadurch befriedigen, dass es sie auf dem Fahrrad nach Brandenburg fahren lässt, wo sie den polnischen Spargelstechern und Erdbeerpflückerinnen gemeinnützig das geschundene Kreuz massieren müssten?
Straflustige intellektuell in Bewegung setzen
Es wäre ja schon erfreulich, ginge die pure Lust am Strafen auch wieder etwas zurück.
Der Bundesminister für Verbraucherschutz und Justiz möchte steuer- oder unterhaltssäumigen Autofahrern den Führerschein entziehen? Warum kommt eigentlich nicht auch nur einer unserer großartigen Rechtspolitiker wenigstens während der Saure-Gurken-Zeit auf den Gedanken, dass es umgekehrt sinnvoll sein könnte, auf Geschwindigkeitsverstöße im Straßenverkehr mit einer Prüfung der Einkommen- und/oder Umsatzsteuererklärungen des Fahrers zu reagieren – weil sich risikofreudiges Verhalten selten auf ein Handlungsareal beschränkt?
Mit der Idee, dass sich Rechtspolitik statt an straflustiger Demoskopie lieber an zweckrationaler Psychologie orientieren sollte, sind wir freilich ein wenig vom bescheidenen Versuch abgekommen, die Freundinnen und Freunde des Strafrechts auf Herman Thomas Bianchis rechtshistorisches Fahrrad zu setzen. Lesen und zweifeln Sie selbst:
Michael Scheele: "Schuld oder Schicksal? Hirnforscher, Psychologen und Humangenetiker zweifeln an der Entscheidungsfähigkeit des Menschen". München (Verlag Komplett Media) 2016, 268 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-8312-0439-7.
Tipp: Weitergehende Überlegungen zur "Krise des staatlichen Strafanspruchs" finden sich in: Klaus Lüderssen: "Abschaffen des Strafens?". Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1995, 428 Seiten, ISBN 978-3-5181-1914-3.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs bei Solingen.
Martin Rath, Buchrezension: . In: Legal Tribune Online, 14.08.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20286 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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