Rechtsgeschichten: Deut­sche Juristen träumten von schwe­di­schen Gar­dinen

von Martin Rath

25.10.2015

Deutschschwedische Vermittlung schwedischer Gardinen

Der Beschluss in der Sache der schwedischen Abtreibungsreisenden und ihres studentischen Vermittlers wurde im Stockholmer Reichstag verhandelt, das Plenum kam aber mit 118 gegen eine Stimme zu dem Urteil, das Verhalten der Regierung sei nicht zu beanstanden – obwohl die politischen Meinungen zuvor heftig ausgetragen wurden, vermutlich aber eben nur so heftig, wie es in einem Parlament zugeht, in dem das Händeklatschen als südländischer Temperamentsausbruch gilt. 118 zu 1, man mag sich das merken, wenn wieder einmal der böse Konformitätsdruck beklagt wird, der heutzutage angeblich durch die "politische Korrektheit" herrscht.

Der dritte Aspekt, der den Fall zu einem didaktisch besonders wertvollen macht, wurde noch nicht erwähnt. Es ist der Name, genauer gesagt, es sind die Amtsbezeichnungen, mit denen der Berichterstatter aus Schweden damals den interessierten Juristen in Deutschland vorgestellt wurde: "Dr. Dr. h.c. Gerhard Simson. Ministerialrat im Schwedischen Justizministerium, Deutscher Leit. Regierungsdirektor a.D."

Der 1902 in Berlin geborene Gerhard Simson schied 1939, wie das biografische Lexikon "Munzinger" in mageren Auskünften mitteilt, "wegen seiner oppositionellen Einstellung aus dem deutschen Staatsdienst und siedelte nach Schweden über". In Deutschland hatte der promovierte Jurist es bis zum Regierungsdirektor gebracht. In Schweden war er, wie die "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" 1951 in nicht ganz zeittypischen Stolz über exilierte Juristen mitteilt, einer der engeren Mitarbeiter des langjährigen schwedischen Justizministers und Hofgerichtspräsidenten Karl Schlyter, einem der wichtigsten Strafrechtsreformer Schwedens.

Arme Deutsche lernen bei den reichen Schweden

Nach 1945 muss sich Simson einige Verdienste nicht nur um die Vermittlung der schwedischen Reformen unter westdeutschen Juristen erworben haben. Deren Rückkehr in die internationale "Scientific Community" fiel nach dem Ende des NS-Staats nicht überall leicht. Die Kollegen im westlichen Ausland hatten gewiss im Blick, wie viel Selbstverdummung deutscher Wissenschaftler in der zeitgenössischen Idee lag, "von Hitler verführt" worden zu sein.

Simson lieferte, gestützt auf die fortschrittliche schwedische Perspektive, zahlreiche Übersichtsbeiträge zur Rechtsentwicklung in der Welt, vor allem zu modernen, vom Gleichberechtigungsprinzip getragenen Rechtspositionen von Frauen, beispielsweise im Staatsangehörigkeitsrecht, oder zu anderen heiklen Themen, wie dem Ehescheidungs- oder eben dem Recht des Schwangerschaftsabbruchs. Von Stockholm aus forschte es sich leichter als in den Trümmerlandschaften deutscher Großstädte. Und es ließ sich leichter Reformpolitik treiben.

Der bekannte Strafrechtskommentator Adolf Schöne bemerkte beispielsweise 1949 fast verwundert, dass in Schweden die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen von über 13.000 im Jahr 1932 auf 313 im Jahr 1944 gesunken war. Man bereiste die modernen schwedischen Gefängnisse, die nun gemeindenah eingerichtet wurden und solche Ungeheuerlichkeiten erlaubten wie mehrtägige Hafturlaube – was deutsche Beobachter als gute Lösung für das "Sexualproblem" des Strafvollzugs anerkannten. Gerne nahm man Einladungen an, das schwedische System kennenzulernen, wunderte sich, dass im kleinen Hessen 4.500 Gefangene einsaßen, während es im großen Schweden nur 2.000 waren – und darüber, dass der Reichstag in Stockholm Strafrechts- und -vollzugsreformen einstimmig verabschiedete. Wie konnte das in einer Demokratie nur möglich sein?

Heute sieht man auch die Schattenseiten

Die deutsche Aufgeschlossenheit für die schwedische Moderne war der Blick auf eine Reformpolitik, die man wegen des 12-jährigen Totalitarismus selbst nicht hatte leisten können. Man sah aber nur das Licht.

Die Schattenseiten hätten sich ebenfalls früh finden lassen, zum Beispiel das alte, populäre Anliegen linker Reformpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, psychisch oder sozial auffällige Menschen zwangsweise unfruchtbar zu machen. Warum man Thilo Sarrazin in die rechte Ecke stellte, nur weil er im Reich der Statistik die alte sozialdemokratische Liebe zur Eugenik neu entflammen lassen wollte, lässt sich nur mit Geschichtsvergessenheit erklären. In keinem anderen demokratischen Land Europas nahm die eugenische  Reformpolitik so gewalttätige Formen an wie in Schweden.

Gerhard Simson, der große, in Deutschland offenbar weitgehend in Vergessenheit geratene Vermittler zwischen schwedischen und deutschen Rechtsreformern, starb 1991 in Stockholm. Er hat nicht miterlebt, wie – sicher auch durch die Kriminalromane von Henning Mankell –  sich das deutsche Schwedenbild verfinsterte, wohl eine realistischere Form annahm.

 

Quellen & Tipps:

Gerhard Simson: "Fragen der Abtreibung und Sterbehilfe in Schweden", in: JZ 1965, S. 636-639.

Adolf Schönke: "Die Strafrechtsreform in Schweden", in: Deutsche Rechts-Zeitschrift 1949, S. 49-52.

Albert Krebs: "Schwedens Gefängniswesen. Bericht über eine Studienreise", Zeitschrift für die gesamte Strafrechtwissenschaft 64 (1952), S. 406-433.

Einen schönen Kriminalroman über die deutsche Schwedenliebe in den 1950er Jahren schrieb, ohne Mankell’sche Düsternis, Karl Schlegel: "Richter wider Willen", Zürich 1986.  

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten: . In: Legal Tribune Online, 25.10.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17318 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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