Rechtsgeschichte der Genderfragen: Junge oder Mäd­chen? Soll es selbst ent­scheiden

von Martin Rath

20.09.2015

2/2: Junge oder Mädchen? – Soll das Kind später selbst entscheiden

Verwunderung lässt sich beim Blick auch in juristische Fachliteratur mittleren Alters herstellen. In den neueren Genderstreitigkeiten, beispielsweise zu den Sexualkunde-Lehrplänen in Baden-Württemberg, tauchte der kabarettistische Witz auf: Fragt die Hebamme den werdenden Vater vor dem Kreißsaal: "Und, soll es ein Junge oder ein Mädchen werden?" – "Ist mir egal, Hauptsache es ist gesund. Und ob es Junge oder Mädchen werden will, kann es entscheiden, wenn es erwachsen ist."

Ausgerechnet in der Festschrift für den langjährigen Generalbundesanwalt Kurt Rebmann (1924-2005), den man vor allem in seiner Funktion als entschlossenen Ankläger in Staatsschutzsachen während der Hochzeiten des westdeutschen Linksterrorismus verbindet, findet sich 1989 ein Beitrag des Kölner Juraprofessors Andreas Wacke, der die "Stellung von Zwittern in der Rechtsgeschichte" behandelt.

Die offensichtliche Pointe des Kreißsaalwitzes verdarb Wacke vor nicht weniger als 25 Jahren bereits ein gutes Stück. Fühlt sich das Kabarettpublikum heute durch die Phrase vom "soll es später einmal selbst entscheiden" deshalb erheitert, weil sie an die weit verbreitete Unlust von Eltern erinnert, ihren Kindern schon mit der Taufe eine Konfessionszugehörigkeit beizubringen, findet sich bei Wacke eine interessante Beobachtung: Im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten war in I 1 §§ 19-23 vorgesehen, dass nach der Geburt von "Zwittern" zwar die "Aeltern" bestimmen, "zu welchem Geschlechte sie erzogen werden sollen". Darauf heißt es in § 20: "Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre, die Wahl frey, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle."

Wacke fühlte sich bei den preußischen Vorschriften über die Bestimmung der Geschlechteridentität aus dem Jahr 1794 an das spätere Gesetz über die religiöse Kindeserziehung von 1921 erinnert. Funktioniert die Pointe aus dem Kreißsaalwitz noch wirklich, wenn man weiß, dass der preußische Gesetzgeber 1794 jedenfalls für Menschen von nicht eindeutiger biologischer Identität eine Wahlfreiheit beim sozialen Geschlecht vorgab – und man die konfessionelle Wahlfreiheit erst rund 120 später ganz ähnlich organisierte?

Zwei Sächsinnen heiraten im Jahr 1729

Am 12. Dezember 1729 verteidigte der Freiberger Jurist Christian Gottlieb Ehrenhauß (verstorben 1742) an der kurfürstlich-mainzischen Universität Erfurt seine Dissertation "de matrimonio duarum foeminarum sexu masculino inito". Dieser lag ein Fall zugrunde, der sich einige Jahre zuvor in der sächsischen Bergbaustadt Freiberg abgespielt hatte: Angeklagt waren zwei Frauen, die formgerecht die Ehe geschlossen und rund zehn Jahre miteinander gelebt hatten, ohne dass ihr Verhältnis aufgefallen wäre. Die eine Frau hatte im Alter von sieben Jahren ihre Mädchenkleider abgelegt, sich als Mann gekleidet und einen Männernamen angenommen. Als Bergmann verdiente sie im Erzbergbau von Freiberg ihren Lebensunterhalt und schloss im Alter von 15 Jahren formgerecht die Ehe mit einer anderen Frau.

An die Öffentlichkeit kam der Vorgang, weil sich die Eheleute sexuell betrogen. Neben der Nichtigkeit der Ehe zweier Menschen gleichen Geschlechts wurde vor den sächsischen Gerichten das – strafrechtsdogmatisch noch völlig unausgereifte – Betrugsdelikt verhandelt. Worin konnte ein Irrtum bestehen, wenn sich die beiden Frauen hinsichtlich ihrer biologischen Eigenschaften durchaus im Klaren waren? Welcher Schaden sollte entstanden sein, wenn sich die Gattin des "Bergmanns" nachhaltig erfreut zeigte, dass ihr Gatte im soliden sächsischen Bergbau ein gutes Familieneinkommen erwirtschaftete? Die barocke Justiz hielt sich nicht allzu sehr mit diesen Feinheiten auf.

Zu klären galt vielmehr welches Ausmaß die "Sodomie" der Gattinnen angenommen hatte. Körperliche Züchtigung und Landesverweisung drohte bei "masturpatio", irregulärer homo- wie heterosexueller Verkehr war mit der Enthauptung, sexuelle Handlungen an Tieren mit dem Scheiterhaufen bedroht. Nicht ganz der Stand heutiger rechtspolitischer Vorstellungen.

Der Fall der beiden Sächsinnen endete mit der Landesverweisung, in diesen Zeiten vor Einführung der Gewerbefreiheit und sehr lange vor jeder Sozialstaatlichkeit dürfte damit die völlige Vernichtung der sozialen Existenz einhergegangen sein.

Rechtliches Durcheinander in Geschlechterfragen - nichts Neues

1939 erhielt eine österreichische "Transvestitin" das Recht, die Kleidung und den Namen eines Mannes zu tragen – letztlich mit dem Segen einer der furchtbarsten Behörden, die der deutsche Staat jemals hervorgebracht hat, dem Amt des "Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei".

1794 regelte der wahrhaft detailfreudige preußische Gesetzgeber jedenfalls die "Gender"-Bestimmung von "Zwittern" erstaunlich autonom. Der Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sollte 1896 die Regelungslust der Preußen nicht übernehmen und hinterließ uns damit manche Streitigkeiten, die bis in die Gegenwart anhalten.

Und schon in den 1710er-Jahren heirateten in Sachsen zwei Frauen.

Man kann vieles behaupten, aber sicher nicht, dass das juristische Durcheinander in Geschlechter- und Genderfragen erst in jüngerer Zeit ausgebrochen wäre.

Literatur:

Stephan Buchholz: "Liebesglück und Liebesleid in Sachsen. Ein Rechtsfall aus den Jahren 1725/1726". In: Rechtshistorisches Journal 5 (1986), S. 119-137.

Andreas Wacke: "Vom Hermaphroditen zum Transsexuellen. Zur Stellung von Zwittern in der Rechtsgeschichte". In: Festschrift für Kurt Rebmann, München (1989).

Ilse Reiter-Zatloukal: "Geschlechterwechsel unter der NS-Herrschaft". In: Beiträge zurRechtsgeschichte Österreichs (2014).

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichte der Genderfragen: . In: Legal Tribune Online, 20.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16938 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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