Seit dem 1. August 1984 können Verstöße gegen die Gurtpflicht mit einem Bußgeld belegt werden. Eingeführt worden war die Pflicht, sich anzuschnallen, bereits acht Jahre zuvor. In der Zwischenzeit entfesselte sich ein regelrechter Glaubenskampf um die Freiheit des deutschen Volks hinterm Steuer – auch unter Juristen. Ein Rückblick von Martin Rath.
Mit drastischen Unfall-Bildern versuchen staatliche Stellen, abzuschrecken und gegen die Unvernunft zu werben. Die solcherart gewarnten Bürger teilen sich auf in die Fraktion derer, die sich in ihrer Freiheit nicht beeinträchtigen lassen wollen und in die Sicherheitsliebhaber, die das lebensgefährliche Verhalten der anderen bestenfalls dann billigen, wenn es die Leichtsinnigen dabei aus dem Leben rafft. Über allem schweben Juristen, die sich um das Recht auf Selbstschädigung sorgen.
Es ist nicht vom Rauchen die Rede damals in den zotteligen 1970er-Jahren, sondern von der Pflicht, sich im Auto anzuschnallen. Eingeführt wurde die Gurtpflicht zwar schon zum 1. Januar 1976 mit § 21a Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Doch fehlte bis zum 1. August 1984 die Rechtsgrundlage, bei Verstößen ein Bußgeld zu verhängen.
Ausgetüftelt hatte die taktisch nicht unkluge juristische Konstruktion einer straßenverkehrsrechtlichen Gurtpflicht ohne Bußgeldsanktion der SPD-Politiker Kurt Gscheidle, der zwischen 1974 und 1980 als Bundesminister für Verkehr, Post- und Fernmeldewesen amtierte. Sein taktisches Zögern, eine mit einem Bußgeld belegte Pflicht einzuführen, war nicht zuletzt juristischen Bedenken geschuldet, ob es dem Rechtsstaat erlaubt sei, die Bürger im Straßenverkehr zum Überleben zu zwingen. Der Spiegel widmete kurz vor Inkrafttreten der noch symbolischen Anschnallpflicht dem Thema ein Titelbild: Mit dem Slogan "Gefesselt ans Auto" gaben die Magazin-Redakteure jenen reißerisch Recht, die sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlten. Danach referierten sie allerdings fleißig Zahlen, die dem Gurt erhebliche individuelle Sicherheitsgewinne bei Verkehrsunfällen zusprachen.
Heute sind nur noch wenige Autofahrer von der generellen Anschnallpflicht befreit, beispielsweise die notorisch freundlichen Menschen, die in solchen Omnibussen das Kommando führen, in denen man als Fahrgast auch stehen darf. Oder Taxifahrer, um ihnen bei Überfällen eine Flucht zu erleichtern. Für letztere will die Bundesregierung nun bei der Gurtpflicht aber nachziehen, wie die Saarbrücker Zeitung dieser Tage berichtete.
Zivil- und Arbeitsgerichte: Selbst schuld
Spiegel-Leser wussten wenig über die Gefahren ihrer automobilen Höllenmaschinen, soweit man das aus dem ableiten darf, worüber die Redakteure des Nachrichtenmagazins anlässlich der Gurtpflicht-Einführung noch glaubten, aufklären zu müssen – über Grundfragen der kinetischen Energie: Bestenfalls bis zu einer Fahrtgeschwindigkeit von 15 Stundenkilometern könne ein mit gutem Bizeps und trainierten Beinen ausgestatteter Autofahrer die Kräfte "verdrücken", die bei einem Frontalunfall auf ihn wirkten. Mit 30 Stundenkilometern "wären sogar die Rammen eines Muhammed Ali überfordert", bei 50 Stundenkilometern gebe es "noch nicht einmal eine theoretische Chance".
Trotz der Aussicht, schon bei vergleichsweise langsamer Fahrt durch einen Verkehrsunfall um Leben oder Gesundheit gebracht zu werden, entwickelte sich die Anschnallquote bis zur Bußgeldpflicht ab dem 1. August 1984 langsam – auf am Ende rund 60 Prozent unter den Bedingungen der relativen Freiwilligkeit. Nicht allein Aufklärung bewirkte derweil seelische Motivationskräfte in diese Richtung. Richter waren es, die Sanktionen im Verkehrskindergarten des realen Lebens Sanktionen etablierten: im Arbeits- und im allgemeinen Zivilrecht.
Das Landesarbeitsgericht Berlin (West) erklärte beispielsweise mit Urteil vom 18. Juli 1979 (Az. 5 Sa 53/79), dass einem nicht angeschnallten Beifahrer, der sich bei einem Unfall erheblich verletzt hatte, für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit die Lohnfortzahlung zu Recht verweigert worden war. Er habe, indem er den Gurt nicht anlegte, sich die Erkrankung selbst zuzuschreiben – denn "von einem verständigen Menschen" sei "im eigenen Interesse" zu erwarten, dass er sich angurte.
Der Bundesgerichtshof (BGH) ging im Wesentlichen bereits in die gleiche Richtung, als er mit Urteil vom 20. März 1979 (Az. VI ZR 152/78) grundsätzlich das Mitverschulden eines Unfallbeteiligten annahm, der wegen eines nicht angelegten Sicherheitsgurts zu Schaden gekommen war. Allerdings unterstellte der BGH für den Unfallzeitpunkt, der vor Inkrafttreten von Gscheidles Normnovelle lag, dass sich unter Verkehrsteilnehmern noch nicht schlechthin die Einsicht durchgesetzt habe, fürs verantwortungsvolle Autofahren müsse man angegurtet sein. Denjenigen, denen die Gurtfreiheit weniger wichtig war als der Schadensersatz beim Unfall, winkten die Karlsruher Richter in diesem Urteil aber schon einmal kräftig für die Zukunft mit den Fesseln der Verantwortung in eigenen Angelegenheiten.
Martin Rath, Gurtpflicht: . In: Legal Tribune Online, 03.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12760 (abgerufen am: 14.11.2024 )
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