Gurtpflicht: Autofahrer seit 30 Jahren gefesselt

von Martin Rath

03.08.2014

2/2: Amtsrichter: Feuerstühle für Jugendliche sind doch viel gefährlicher!

Um die Frage, ob die Gurtpflicht – als Ausdruck der in liberalen Augen scheußlichen Idee, den Menschen vor sich selbst zu schützen – verfassungswidrig ist, konnten die Zivil- und Arbeitsgerichte noch einen Bogen schlagen. Bei der Umverteilung von Risiken unter Privatpersonen lässt sich gut mit dem Grad allgemeiner Vernunft und Verantwortung argumentieren, weil Unvernunft des einen dem anderen nicht zum Schaden werden soll – Widerwille gegen staatliche Pädagogik kommt bei solchen Erwägungen erst an zweiter Stelle. Das änderte sich natürlich, nachdem der Staat mit dem Bußgeld ab dem 1. August 1984 seinen Teil zur Hebung der Gurtpflicht-Vernunft beitragen wollte.

Das Amtsgericht (AG) Albstadt (zwischen Stuttgart und der Schweizergrenze gelegen) verwarf nun mit Beschluss vom 17. Dezember 1984 (Az. 4 Owi 210/84) einen Bußgeldbescheid, der wegen Missachtung der um die Sanktionsmöglichkeit erweiterten Gurtpflicht erlassen worden war. Das Gericht erkannte einen Verstoß gegen die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz. Der Gesetzgeber verletze, zumal Gurtpflichtverstöße auch mit Fahrverboten sanktioniert werden können, das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Der Richter, sonst auch in Jugendsachen tätig, monierte, dass beispielsweise Jugendliche von einer "pervertierten Marktwirtschaft" verführt würden, sich auf "Feuerstühle" (gemeint sind Motorräder) zu setzen – eine weit größere Gefahr als jene, die mit der Gurtpflicht abgewehrt werden sollten.

Wegen des untergesetzlichen Rangs der Straßenverkehrs-Ordnung konnte er sich umfangreich zur Verfassungswidrigkeit der Norm auslassen, ohne über eine Richtervorlage ans Verfassungsgericht nachdenken zu müssen.

BVerfG: Wer sich nicht anschnallt, schadet nicht nur sich selbst

Der Beschluss aus Albstadt rief den Protest der Gewerkschaft der Polizei hervor – einer Organisation, deren Pressesprecher ohne krankhaft hohen Blutdruck offenbar nicht denken können. Hans Lisken, der seinerzeit in Düsseldorf weltberühmte, liberale Polizeipräsident der NRW-Hauptverwaltungsortschaft, formulierte dagegen schon 1985 das Credo: Aus dem bloßen Gedanken, den Menschen vor sich selbst zu schützen, dürfe ein staatlicher Eingriff in die Rechte des sonst zurechnungsfähigen Einzelnen nicht begründet werden. Ähnlich wie bei Rauchverboten müsse der Schutz von Unbeteiligten auch bei Gurtmuffeln im Vordergrund stehen. Die Polizeigewerkschaft hatte allein den objektiven, statistischen Erfolg der Anschnallpflicht im Auge, Allgemeinwohl geht in der Branche im Zweifel vor privater Freiheit (Neue Juristische Wochenschrift 1985, 3053).

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verwarf Verfassungsbeschwerden gegen die bußgeldbewehrte Gurtanlegepflicht – beispielsweise mit Beschluss vom 24. Juli 1986 (Az. 1 BvR 331/85). Die Argumentation erinnert dabei an Lisken: Kraftfahrer schadeten nicht nur sich selbst, wenn sie mangels Gurt verletzt würden. So könnten sie etwa nicht mehr am Unfallort helfen. Um sich dem Recht zu stellen, sich selbst zu schaden, muss man in Deutschland seither zu nachhaltigeren Risiken greifen als dem Fahren ohne Gurt – Bungeespringen oder Aktivrauchen etwa.

Ob sich Taxifahrer wegen solcher Vorentscheidungen und -wertungen von Verfassungsbeschwerden werden abhalten lassen, wenn auch sie sich demnächst unter Androhung eines Bußgeldes beim Fahren anschnallen müssen? Vermutlich nicht.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Gurtpflicht: . In: Legal Tribune Online, 03.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12760 (abgerufen am: 15.11.2024 )

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