Sexualstraftaten im Nachkriegs-Europa: Kri­mi­nal­sta­tistik mit später Wir­kungs­macht

von Martin Rath

22.05.2016

Am Montag stellt Thomas de Maizière die Polizeiliche Kriminalstatistik vor. Die lädt schon in Friedenszeiten zu Spekulationen ein. Auf das statistisch heikle Terrain von Krieg und Umbruch wagten sich nun australische Forscher.

Am 15. April 1945, die idyllische Kleinstadt Lauf in Baden war soeben von US-Truppen eingenommen worden, unternahm es der einfache Soldat Blake W. Mariano aus New Mexico, 29 Jahre alt, geschieden, Vater von drei Kindern, den Sieg zu feiern. In der Weinbaugemeinde Lauf fanden sich entsprechende Vorräte. Alkoholisiert terrorisierte Mariano im Anschluss 17 Menschen, die in einem Luftschutzraum Zuflucht gesucht hatten. Zusammen mit einem Kameraden vergewaltigte er eine 21-jährige Frau. Die gleiche Absicht verfolgte er mit einer 41-Jährigen. Als er feststellte, dass sie menstruierte, schoss er sie an. Sie quälte sich bis in den nächsten Morgen in den Tod.

Mariano wurde am 8. Mai 1945 von der US-Militärpolizei inhaftiert. Das Militärgericht verurteilte ihn trotz der Erkenntnis, einen "hochgradig Schwachsinnigen" vor sich zu haben, wegen Mordes und Vergewaltigung zur Höchststrafe. Am 10. Oktober 1945 wurde der Soldat Mariano am Galgen hingerichtet.

Als die Soldaten kamen

Für sich genommen war der Fall Mariano kaum mehr als eine Militärstrafsache unter vielen. Vom Verbrechen des Völkermords abgesehen dürfte es aber kaum einen Komplex krimineller Handlungen geben, der mehr zur geschichtspolitischen Interpretation einlädt als die Sexualstraftaten zu Zeiten von Krieg und Besatzungsmacht. Dies gilt insbesondere für den zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieg und die ersten Nachkriegsjahre.

Es steht viel moralisches Kapital auf dem Spiel. Britische Weltkriegsveteranen finden beispielsweise heutzutage besonderes Gehör, wenn sie sich gegen den Austritt des Königreichs aus der Europäischen Union aussprechen. Ihr Einsatz vor über 70 Jahren gibt ihrem Urteil Gewicht.

Im Rückblick auf die Kriegsbeteiligung der USA in Korea und vor allem in Vietnam gilt die Beteiligung westalliierter Truppen am Waffengang des Zweiten Weltkriegs als sauber. Von einer "Great Generation" wird gesprochen, aufgewachsen in Zeiten der Weltwirtschaftskrise nach 1929 und von Franklin D. Roosevelts New Deal, siegreich gegen Deutschland und Japan. Es sind Menschen, die später ein optimistisches Bilderbuchamerika aufbauten, in das sich mancher Trump-Wähler zurückträumt.

Nachdem im Jahr 2015 die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt mit ihrem Buch "Als die Soldaten kamen" sich an kriminalstatistischen Angaben zur Dimension der Vergewaltigungsdelikte durch die alliierten Truppen versuchte, gerieten ihre Folgerungen fast zwangsläufig in eine Diskussion darüber, ob die deutschen Opfer fremder Soldaten thematisiert werden könnten, ohne "unsere Schuld" zu relativieren.

Was im Idealfall Kinder und Enkel gelernt haben, nämlich einfach zuzuhören und sich des moralischen und geschichtspolitischen Urteils zu enthalten, ist leider keine Kunst, die etwa durch das miefige Talkshow-Fernsehen vermittelt würde.

Australier evaluieren Amerikaner in Europa

Besser lesen, was die anderen schreiben. In der aktuellen Ausgabe des "Journal of Interdisciplinary History" (2016, Seiten 53–84), einem Blatt, das im Hausverlag des  Massachusetts Institute of Technology herausgebracht wird, findet sich der Aufsatz "Crimes Committed by U.S. Soldiers in Europe, 1945–1946", verfasst von zwei australischen Forschern: Thomas J. Kehoe firmiert als "Learning Designer" und Historiker, E. James Kehoe ist Psychologieprofessor mit einem Arbeitsschwerpunkt auf dem Gebiet der Militärpsychologie. Wissenschaftler, keine "engagierten Wissenschaftler".

Die jeweils aktuelle Polizeiliche Kriminalstatistik ist bereits anfällig für den sicherheitspolitischen Spekulationsbetrieb. Die Herren Kehoe bewegen sich auf dem kaum minder heiklen Feld der historischen Statistik.

Besagte Miriam Gebhardt schätzte 2015, dass US-Soldaten zwischen 1945 und 1955 in Deutschland sich in rund 190.000 Fällen der Vergewaltigung schuldig gemacht hätten. Ihr Rechenweg wurde angegriffen, beruhte er doch unter anderem auf der Zahl nichtehelicher Geburten mit mutmaßlichem Erzeuger aus den Reihen des US-Militärs. Für den Bereich der Roten Armee und das Jahr 1945/1946 werden zumeist Zahlen zwischen einer und zwei Millionen Vergewaltigungen genannt, aber Aufrechnerei sei dem überlassen, der sie nötig hat.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Sexualstraftaten im Nachkriegs-Europa: . In: Legal Tribune Online, 22.05.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19432 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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