"Mord? Totschlag? Oder was?": An der Grenze zwischen Schuld und Irrsinn

von Martin Rath

17.05.2015

2/2: Blausäuremörder als Marionette des KGB?

Doch zunächst zum literarischen Nährwert. Man darf wohl davon ausgehen, dass ein Jurastudent, der von einem bösen Mitmenschen mit dem Ruf "Staschinski!" aus dem Schlaf gerissen wird, spätestens ab dem zweiten Fachsemester einige, vielleicht etwas benommene Worte zur Abgrenzung von Täterschaft und Tatgehilfenschaft murmeln kann. Bogdan M. Staschynskij, ein KGB-Agent, der in München zwei ukrainische Exilpolitiker mit einer Blausäurepistole getötet hatte, 1957 Lev Rebet, 1959 den heute wieder stark umstrittenen Stepan Bandera, hatte sich 1961 in Berlin (West) den deutschen Behörden gestellt.

Im berühmten Lehrbuchfall "Staschinski" machte der Bundesgerichtshof (BGH) aus diesem Menschen, der zwei antisowjetische Exilpolitiker mittels Zerstäuben von Blausäurenebel ins Gesicht getötet hatte - was neben Übung auch gut durchdachte Schutzmaßnahmen beim Schützen erforderte - zum fast unschuldig wirkenden Werkzeug bzw. Gehilfen einer fremden Tat. Eigentlicher Täter seien die KGB-Funktionäre in Moskau und die sowjetische Staatsführung gewesen. Zu Studienzwecken wird zumeist die Kurzfassung des BGH-Urteils vom 19. Oktober 1962 (Az. 9 StE 4/62) herangezogen. Das genügt, will man die merkwürdige Täterschaftskonstruktion des BGH nachschlagen.

© Militzke Verlag GmbHErnst Reuß hat etwas tiefer gegraben und zieht beispielsweise die Berichterstattung der strikt anti-kommunistischen Tageszeitung "Die Welt" hinzu. Deren Redaktion wunderte sich damals, wie viel Zuneigung dem Geheimdienstkiller seitens der westdeutschen Justiz entgegengebracht wurde. Der BGH hatte sich selbst für die Bolschewistenfresser aus dem Hause Springer allzu tief eingefühlt in die zarte Seele, die berufliche Alternativlosigkeit Staschynskijs. Über ihn urteilte der BGH: "Auch hat er bisher keinen Beruf erlernt, der ihn ernähren kann." Reuß dazu: "Jetzt wird es aber ganz abstrus. Staschynskij bekommt mildernde Umstände, weil er nichts Anständiges gelernt hat. Er war gezwungen, Menschen zu killen, damit er sich ernähren konnte."

Barnum-Effekt bei Gutachten-Auszügen

Wir begegnen dem Sirius-Fall und Staschynskij, einer Serien-Kindsmörderin aus Husum und einem vermeintlichen Mitnahmesuizidenten aus Dänemark, dem Katzenkönig oder dem "Kannibalen von Rotenburg" und erfahren mehr Details, als juristische Lehrbücher hergeben. Für Freunde des finsteren Humors ist bereits nicht uninteressant, dass sich der sogenannte Kannibale aus der Haft heraus in einer politischen Partei engagiert (noch dazu in jener, die sich mit der Forderung nach einem "Veggieday" bei der jüngsten Bundestagswahl in die Nesseln setzte).

Für Leserinnen und Leser, die im Alltag mit Strafrecht nichts am Hut haben, sind die zahlreichen Feinheiten von Interesse, die den zunächst vielleicht etwas befremdenden Titel von Reuß‘ Buch begründen: "Mord? Totschlag? Oder was?" Welche Aspekte standen beispielsweise im Fall des "Kannibalen" zur Diskussion, waren wie zu beurteilen, um vom ersten Urteil, das einen Totschlag erkannte, auf die Verurteilung wegen Mordes zu kommen? Welche Dynamik von Presseberichterstattung spielt herein, etwa in den Fällen von sogenanntem "Ehrenmord", die Reuß aufgreift?

Der Einfluss der Gutachter. Reuß zitiert aus einigen psychiatrischen Einlassungen der Nervenärzte über Menschen, die getötet hatten. Wegen der absoluten Strafandrohung des § 211 StGB, der erheblichen Strafandrohungen des Tötungsstrafrechts generell, wird hier ja mehr Wert auf die Geistesverfassung des Angeklagten gelegt als etwa bei der gemeinen Steuerhinterziehung.

Zunächst einmal erschreckt hier ein wenig der Barnum-Effekt. Nach dem US-amerikanischen Zirkus-Manager Phineas Taylor Barnum (1810-1891) ist die z.B. aus der Horoskop-Lektüre bekannte Neigung benannt, allgemeingültige, aber nichtssagende Phrasen auf die eigene Person zu beziehen. Nicht wenige gutachterliche Aussagen über die Geistesverfassung der später wegen Mord oder Totschlag verurteilten Menschen könnten von braven, unauffälligen Alltagsmenschen auf sich selbst bezogen werden – ganz ohne in einer Lebenskrise zu stecken oder gar mit Mordplänen durch die Welt zu laufen. Sollte das die Phrasenhaftigkeit von Gutachten belegen, auf deren Grundlage Menschen auf Jahre oder Jahrzehnte weggesperrt werden, wäre das kein sehr angenehmer Gedanke.

Über welche Probleme streitet man eigentlich?

Des Weiteren lernt man bei Reuß einige Menschen etwas näher kennen, die irrsinnig genug waren, ihre Liebhaber mit K.O.-Tropfen ums Leben zu bringen, gleich serienweise, eine Mutter, die ihre neugeborenen Kinder tötete, als sei Empfängnisverhütung eine Technik vom fremden Stern, vom "Kannibalen" ganz abgesehen. Sie galten juristisch als fähig, zwischen Recht und Unrecht ihres Tuns zu unterscheiden. Ihr Weg führt daher primär in den Strafvollzug, nicht in psychiatrische Behandlung.

Es ist wohl keine allzu windige Vermutung, wenn man unterstellt: Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren eine krampfhafte Diskussion um die Reform der Tötungsdelikte erleben, bei der es mehr um die Überschriften der Normen als darum gehen wird, die Grenzen zwischen strafwürdiger Schuld und behandlungsbedürftigem Irrsinn neu zu ziehen.

Über Maßnahmen, die Zahl von Tötungsdelikten in Deutschland effektiv durch zu senken, beispielsweise durch eine verbesserte und verpflichtende Leichenschau, um Tötungen im häuslichen und im Bereich der expandierenden Seniorenaufbewahrungsindustrie zu entdecken, lässt sich ja später irgendwann einmal reden – aktuell geht es um das edle Ziel, noch ein paar Freisler-Reste aus dem StGB zu entfernen.

Tipp: Ernst Reuß: "Mord? Totschlag? Oder was?" Bizarres aus Deutschlands Strafgerichten", ist erschienen im Militzke-Verlag, Leipzig 2014. 220 Seiten, 19,80 Euro, als E-Book 12,99 Euro.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, "Mord? Totschlag? Oder was?": . In: Legal Tribune Online, 17.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15537 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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