2/2: Im Zweifel ist englisches Recht von Nutzen
Gelegentlich wird kritisch geäußert, Rechtsvergleichung im Allgemeinen und Verfassungsanalysen im Besonderen nähmen sich stets nur einer überschaubaren Zahl überwiegend westlicher Rechtsordnungen an, meist solcher, die von wirtschaftlichem Nutzen seien.
Mit dem Recht des 100.000-Seelen-Königreichs Tonga könnte man diesen Vorbehalt Lügen strafen. Zunächst ist es dabei ganz wunderbar anschlussfähig, weil beispielsweise in Regel 2 Abs. 2 der Supreme Court Rules vorgegeben wird, dass im Zweifel das in England gültige Verfahrensrecht anzuwenden ist. Auf das englische Recht wird auch sonst gelegentlich verwiesen.
Darüber hinaus ist die tongaische Gesetzgebung erfreulich übersichtlich. Beispielsweise hat das Einkommensteuerrecht ("Lao ki he Tukuhau Vahenga") bereits jene knappe Form (PDF), die uns Paul Kirchhof hierzulande so oft vergeblich versprochen hat – selbst wenn es mit 100 Paragraphen augenscheinlich das längste aller Gesetze Tongas ist. Es wartet außerdem mit innovativen Ideen auf: So wird etwa das Einkommen des Königs, der nicht nur als beinah einziger rechtmäßiger Eigentümer von Land privilegiert (Artikel 30 ff. der Verfassung), sondern auch darüber hinaus ein unternehmerisch potenter Akteur seiner Inseln ist, gleich ganz von der Versteuerung ausgenommen.
Das ist eine erfreulich schlanke Regelung. Wie viel mehr legislativen und buchhalterischen Aufwand betreibt man doch in anderen Rechtsordnungen, um die dicksten Fische der Volkswirtschaft steuerrechtlich vom Haken zu bekommen. Das könnte, wie man sieht, auch ganz einfach geregelt werden.
Wer einen weniger verfänglichen Eindruck von schlanker Gesetzgebung bekommen möchte, halte nur die zentralen Gesetze zum Thema Abfall nebeneinander: Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) versus Abfallbewirtschaftungsgesetz ("Lao ki hono Tokanga'i 'o e Veve 2005"): allein die deutschen Begriffsbestimmungen § 3 KrWG nehmen bald so viel Raum ein wie das komplette Abfallgesetz Tongas.
Exotische Anregungen für ordentliche Deutsche
Eine echte Bereicherung zu der in Deutschland so ermüdenden, jährlich von Neuem aufgewärmten Diskussion um die Tanzverbote an stillen Feiertagen bietet der "Dances Act" ("Lao ki he Ngaahi Hulohula"), der erstmals 1951 erlassen wurde (PDF). Es handelt sich offenbar um den Versuch einer strikt christlich geprägten Gesellschaft, dem tendenziell ja nicht nur an hohen Feiertagen, sondern ganzjährig moralisch fragwürdigen Tanz-Vergnügen behördliche Aufsicht angedeihen zu lassen. Wer dies anbieten will, muss es sich genehmigen lassen – nicht bloß damit leben, dass es an ein paar Feiertagen unterbunden wird.
Verteidiger deutscher Tanzverbote könnten sich zudem an § 4 des tongaischen "Dances Acts" ein Vorbild nehmen: Auf Antrag von zwei oder mehr ehrwürdigen Haushalten kann die behördliche Untersuchung eines unordentlich geführten Nachbarhaushalts beantragt werden. Dafür muss noch nicht einmal getanzt worden sein.
Wer durch seinen unordentlich geführten Haushalt eine Belästigung der Nachbarn bewirkt, kann zu einer Geldstrafe oder zu Haft bis zu drei Monaten verurteilt werden. Tonga ist also auch ein normatives Traumland deutscher Sicherheitspolitiker, die mit der Ausfüllung von Regelungslücken ernst machen möchten – wenn man auch bemängeln muss, dass eine wegen gestärter Nachbarn verhängte Haftstrafe wegen gestörter Nachbarn ohne Zwangsarbeit abgesessen werden darf.
Die Welt braucht mehr tongaisches Recht
Nun wäre es ein etwas unfreundlicher Akt, noch dazu am Nationalfeiertag der betroffenen ausländischen Macht, ihre Rechts- und Verfassungsordnung allein auf exotische Regelungen zu durchforsten.
Tatsächlich regt beispielsweise die Zusammensetzung der Gesetzgebenden Versammlung Tongas durchaus auch zu ernsthaften Überlegungen an: Nachdem ihr seit 1962 neben dem Kronrat und Kabinettsministern, abhängig vom König, jeweils neun aus dem Häuptlingsadel und dem übrigen Volk gewählte Abgeordnete angehörten (Artikel 60 der Verfassung), erstritt sich das Volk in den 2000er-Jahren das Recht, seine Vertretung auf 17 Abgeordnete zu erhöhen.
Der an die britische Verfassungsgeschichte erinnernde Vorgang, die wichtigsten ökonomischen Akteure förmlich in die Gesetzgebung einzubinden, dem demokratischen Prinzip dann nach und nach Raum zu geben, ist vielleicht erfolgreicher, als gleich mit maximal repräsentativer Demokratie zu starten, um sich die politische Korruption dann in die Schattennischen der Lobbys zu holen.
Und diese Norm braucht es unbedingt
Die Einladung, einmal einen Blick in die Gesetze Tongas zu werfen, bliebe ohne den Hinweis auf eine Regelung unvollständig, die in unseren Zeiten insbesondere in den präsidial verbrämten Wahlmonarchien des Planeten Erde nottäte. Unter dem Titel "Idiot not to succeed" heißt es in Artikel 35 der Verfassung Tongas: "No person shall succeed to the Crown of Tonga who has been found guilty of a felony or who is insane or imbecile", zu Deutsch etwa: "Es darf keine Person an die Krone von Tonga gelangen, die eines Verbrechens schuldig ist oder für verrückt oder schwachsinnig befunden wurde."
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Lernen vom Königreich Tonga: . In: Legal Tribune Online, 04.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23104 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag