Erster Einsatz der Suizidkapsel "Sarco": Wann ist Sui­zid­hilfe in Deut­sch­land erlaubt?

Gastbeitrag von Josua Zimmermann

27.09.2024

Anfang der Woche starb in der Schweiz erstmals ein Mensch durch die umstrittene Suizidkapsel "Sarco". Die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen gegen mehrere Personen ein. Josua Zimmermann analysiert die Rechtslage in Deutschland.

Am 24. September 2024 erklärte die Schweizer Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider, sie halte den Einsatz der umstrittenen Suizidkapsel "Sarco" für rechtswidrig. Produktsicherheitsvorschriften seien nicht erfüllt. Zudem sei der Einsatz von Stickstoff zum Zwecke der Selbsttötung nicht mit dem Chemikaliengesetz zu vereinbaren.

Was Baume-Schneider zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Wenige Stunden später würde erstmals ein Mensch mittels "Sarco" seinem Leben ein Ende setzen: eine 64-jährige Amerikanerin, die an einer schwerwiegenden Immunerkrankung litt. Der Suizid fand in einem Wald im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet statt. Der Vorgang sei "planmäßig verlaufen" und habe zu einem "friedlichen und würdigen Tod" geführt, so die Sterbehilfeorganisation "The Last Resort".

Unmittelbar danach leitete die Staatsanwaltschaft Schaffhausen ein Ermittlungsfahren gegen mehrere Personen ein. Der Tatverdacht: Beihilfe und Verleitung zum Suizid aus selbstsüchtigen Beweggründen gem. Art. 115 Strafgesetzbuch-CH (StGB-CH). Es kam zu mehreren Festnahmen, die Suizidkapsel wurde beschlagnahmt sowie die Obduktion der Verstorbenen angeordnet. 

Obgleich bisher keine Pläne eines Einsatzes des "Sarco" außerhalb der Schweiz bekannt sind, stellen sich weitreichende Fragen – auch hinsichtlich der rechtlichen Situation in Deutschland. So könnte sich der Einsatz des "Sarco" auf die politischen Bemühungen um eine gesetzliche (Neu-)Regelung der Suizidassistenz auswirken. Wie wäre der Einsatz des "Sarco" nach aktueller Rechtslage in Deutschland strafrechtlich zu beurteilen?

Suizidhilfe ohne Ärzteschaft – und hohe Kosten

Das Bahnbrechende an der vom selbsternannten "Sterbehilfe-Pionier" Philip Nitschke entwickelten Suizidkapsel ist ihre Funktionsweise: Durch Betätigung eines Knopfes im Inneren des "Sarco" strömt Stickstoffgas in die luftdichte Kapsel und ersetzt den sich dort befindlichen Sauerstoff. Der Suizident wird zunächst bewusstlos und verstirbt dann innerhalb weniger Minuten aufgrund eines Sauerstoffmangels. Der Vorgang soll schmerzlos sein, ja sogar euphorische Gefühle auslösen; wissenschaftlich belegt ist dies allerdings nicht.

Anders als bei der in der Schweiz etablierten Suizidhilfe mittels des verschreibungspflichtigen Betäubungsmittels Natrium-Pentobarbital ist für den Einsatz des "Sarco" keine ärztliche Beteiligung erforderlich. Dies führt zu einer erheblichen Kostenreduktion: „The Last Resort" verlangt für die Nutzung des "Sarco" lediglich 18 Franken zur Deckung der Stickstoffkosten. Die Mitgliedschaft in der Organisation ist kostenlos. Demgegenüber erheben Sterbehilfeorganisatoren wie "DIGNITAS" eine Aufwandsentschädigung von mehreren Tausend Franken für ihre "Freitodbegleitung".

Die Schweiz – das "Mekka" der Sterbehilfe?

Die Wahl der Schweiz als erster Einsatzort für den "Sarco" ist nicht zufällig. Das Land zeichnet sich durch eine liberale Rechtslage zur Suizidhilfe aus. Die Unterstützung eines freiverantwortlichen Suizids ist erlaubt, sofern keine selbstsüchtigen Motive vorliegen (Art. 115 StGB-CH). Als selbstsüchtig gelten etwa das bewusste Verleiten zum Suizid zur Herbeiführung eines Erbfalls oder zur Vermeidung von Unterhaltungspflichten.

Ebenso bedeutsam ist die breite Zustimmung in der Schweizer Bevölkerung zum assistierten Suizid. Mehrere aktuelle Studien belegen, dass etwa 80 Prozent der Schweizer:innen diese Möglichkeit selbstbestimmten Sterbens befürworten. 

Kontroverse um Rechtskonformität in der Schweiz

Dem Einsatz der bereits 2019 auf der Design-Messe in Venedig der Öffentlichkeit präsentierten Suizidkapsel ging allerdings eine Kontroverse über die rechtliche, medizinische und ethische Vertretbarkeit dieser Suizid-Methode voraus. Mehrere Schweizer Kantone, darunter der Kanton Schaffhausen, hatten die Organisation eindringlich vor einem Einsatz gewarnt. Auch etablierte Sterbehilfeorganisationen wie „EXIT - Deutsche Schweiz“ distanzierten sich von dieser Form der Suizidhilfe.

"The Last Resort" betont demgegenüber die Rechtskonformität ihrer Suizidkapsel. Dabei stützt sie sich auf ein bis lang nicht veröffentlichtes juristisches Gutachten eines nicht namentlich bekannten Professors der Universität St. Gallen. Einem drohenden Gerichtsverfahren sehe man selbstbewusst entgegen, heißt es seitens der Organisation.

Auch in Deutschland ist Beihilfe zum Suizid straflos

In Deutschland ist die (Bei-)Hilfe zum Suizid, wie auch in der Schweiz, grundsätzlich straflos. Dies ergibt sich aus dem Prinzip der limitierten Akzessorietät: Da der Suizid selbst nicht strafbar ist, fehlt es an einer vorsätzlichen, rechtswidrigen Haupttat. Seitdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 26. Februar 2020 den § 217 Strafgesetzbuch (StGB) a.F. für nichtig erklärt hat, existieren auch keine spezifischen strafrechtlichen Regelungen zum assistierten Suizid mehr.

Das BVerfG betonte in diesem richtungsweisenden Grundsatzurteil, dass die Suizidhilfe besonderen grundrechtlichen Schutz genieße. Jeder Mensch habe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, das sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 Grundgesetz (GG)) ableite und überdies in einem spezifischen Zusammenhang zur Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG stehe. Dieses Grundrecht umfasse auch die Möglichkeit, Suizidassistenz in Anspruch zu nehmen, da ein Suizid auf humane Weise oft nur mit Unterstützung Dritter möglich sei. 

Suizidentschluss muss freiverantwortlich sein

Für die Straflosigkeit der Suizidhilfe müssen allerdings zwei Voraussetzungen erfüllt sein: erstens die Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses und zweitens die Täterschaft des Suizidenten. 

Die Freiverantwortlichkeit eines Suizidentschlusses setzt nach Vorgaben des BVerfG vier Elemente voraus: Der Suizidwillige muss in der Lage sein, seinen Willen frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung zu bilden und entsprechend zu handeln und über alle entscheidungserheblichen Gesichtspunkte informiert sein. Außerdem muss der Entschluss dauerhaft und fest sein und frei von unzulässiger Einflussnahme oder Druck entstanden sein.

Die Täterschaft des Suizidenten ist nach Tatherrschaftskriterien zu bejahen, wenn er die letztlich zum Tod führende Handlung selbst ausführt und damit den Geschehensablauf in seinen Händen hält. In Einzelfällen können sich hierbei schwierige Abgrenzungsfragen zur Tötung auf Verlangen ergeben, die gemäß §§ 212 Abs. 1, 216 Abs. 1 StGB strafbewährt ist. 

"Sarco"-Einsatz in Deutschland: Strafrechtlich unbedenklich?

Beim "Sarco" kann – wie von den Entwicklern wiederholt betont – ausschließlich der Suizident mittels eines sich im Innenraum befindlichen Knopfs den tödlichen Stickstofffluss auslösen; andere Personen, die sich außerhalb der Kapsel befinden, haben darauf keine Zugriffsmöglichkeit.

Sofern die sterbewillige Person ihren Sterbeentschluss freiverantwortlich gefasst hat, steht ihre Tatherrschaft damit außer Frage. Der Einsatz des "Sarco" verletzt in diesem Fall keinen Straftatbestand des StGB. 

Ist der Suizidentschluss allerdings nicht freiverantwortlich, können sich die Personen, die den Suizid ermöglicht haben – abhängig von den Umständen des Einzelfalls –  entweder wegen einer Tötung in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 212 Abs. 1, 25 Abs. 1 S. 2 StGB oder wegen einer Tötung durch Unterlassen gem. §§ 212 Abs. 1,  13 Abs. 1 StGB strafbar machen. Für Dritte, die keine zentrale Rolle im Tatgeschehen einnehmen und auch keine Garantenstellung gegenüber dem Suizidenten innehaben, droht eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c Abs. 1 StGB.

"Sarco" ist wohl kein Medizinprodukt

Zu beachten sind ferner die Straftatbestände des Medizinproduktegesetz (MPG) und des Produktsicherheitsgesetzes (ProdSG). Dem MPG unterliegen jedoch nur Produkte mit einer medizinischen Zielsetzung. Ob sich der "Sarco", der sich als dezidierter Gegenentwurf zum ärztlich assistierten Suizid versteht, darunter subsumieren lässt, ist fraglich. Die Schweizer Heilmittelinstitut Swissmedic sah sich jedenfalls als nicht für die Regulierung des "Sarco" zuständig, da sie diesen nach eingehender Prüfung nicht als Medizinprodukt qualifizierte. 

Eine Strafbarkeit nach § 29 ProdSG dürfte nur dann in Betracht kommen, wenn allgemeine Anforderungen des Gesetzes, wie beispielsweise Aufklärungspflichten, nicht eingehalten werden. Die bloße Bereitstellung des "Sarco" ist hingegen – unter Berücksichtigung der offensichtlich unterschiedlichen Zwecksetzung des ProdSG sowie der grundrechtlichen Wertung zugunsten der Suizidhilfe – voraussichtlich nicht als Verstoß gegen das ProdSG zu bewerten.

Gesetzliche Regelung dringend erforderlich

Die strafrechtliche Beurteilung der Suizidhilfe mittels des „Sarco“ erweist sich – ebenso wie bei etablierten Formen der Suizidhilfe – als zweischneidig: Ist der Entschluss der sterbewilligen Person freiverantwortlich, ist die Hilfe bei der Umsetzung unabhängig von der Methode erlaubt. Bestehen hingegen Zweifel an der Freiverantwortlichkeit, ergeben sich für die Suizidhelfer:innen erhebliche strafrechtliche Risiken bei objektiv gleicher Handlung.

Der Angelpunkt der strafrechtlichen Beurteilung liegt mithin nicht in der gewählten Methode, sondern im wertungsbedürftigen Begriff der Freiverantwortlichkeit und dessen Sicherstellung. Hier ist der Gesetzgeber dringend gefordert, verbindliche und verfassungskonforme Kriterien zu statuieren. Ohne klare gesetzliche Regelung besteht weiterhin eine erhebliche Rechtsunsicherheit für alle Personen, die Suizidhilfe leisten, um zumeist schwerkranken, leidenden Sterbewilligen ein selbstbestimmtes Sterben zu ermöglichen.

Josua Zimmermann forscht als Doktorand am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht von Professor Rosenau zu Fragestellungen des selbstbestimmten Sterbens. Zugleich ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Professor Rozek an der Universität Leipzig.

Zitiervorschlag

Erster Einsatz der Suizidkapsel "Sarco": . In: Legal Tribune Online, 27.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55519 (abgerufen am: 27.09.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen