2/2: Als der Staat noch nicht dem Bürger gehörte
Die Normen des Reichsgesetzes, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes, wurden zunächst in die Paulskirchenverfassung von 1848 übernommen, und teilten ihr politisches Schicksal in dem gescheiterten Versuch, die deutsche Einheit auf verfassungsrechtlichem Weg, statt mit "Blut und Eisen" (Otto von Bismarck) zu erreichen. Der Bundestag des Deutschen Bundes, diese Veranstaltung der zumeist fürstlichen Souveräne Deutschlands, erklärte das Gesetz mit Beschluss vom 23. August 1851 für ungültig.
In seinem erstmals 1971 erschienenen Werk "Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts" äußerte der Kieler Zivilrechtslehrer und Rechtshistoriker Hans Hattenhauer (1931-2015), dass dieser "erste deutsche Grundrechtskatalog … Pflichtlektüre eines jeden gebildeten Deutschen sein müsste". Bei allen Vorbehalten gegen Pflichtlektürenverpflichtungen: Ganz falsch lag er damit gewiss nicht.
Hattenhauer beschrieb die Grundrechte von 1848 als Höhepunkt einer dramatischen Auseinandersetzung des deutschen Bürgertums mit dem anachronistischen Staat der Fürsten: "Es war gewiß nicht 'sein' Staat, den der Bürger von den Professoren verkündigt und bei Hofe repräsentiert fand. Er war nicht mehr bereit, an die unbedingte Güte eines Landesvaters zu glauben, den er als miserablen Schuldner kennengelernt hatte. Er wollte seine Arbeit nicht mehr als Gottesdienst begreifen. Zahlen und Prozente waren ihm wichtiger als Staatsmystik und frömmelnde Verbrämung restaurativer Staatspolitik."
Bis "die Gesellschaft sich im 20. Jahrhundert zur Unterwerfung des Staates stark genug fühlen sollte", sollten Staat und Gesellschaft in den 100 Jahren zwischen 1848/49 und 1949 getrennte Wege gehen. Dem so lange machtlosen Geist von 1848 widmete Hattenhauer starke Worte: "Nun wollte der Bürger eine eigene, unentziehbare Freiheit haben, wollte nicht Konzessionär von der Gnade des Staates sein, wollte 'Grundrechte' haben. In der rechtlichen Anerkennung der freien Willensbetätigung sah der Bürger das Ziel seines Kampfes gegen den Staat."
Gehören die Grundrechte den Gerichten?
"Die Freiheit der Person ist unverletzlich." (§ 8 Satz 1) "Die Wohnung ist unverletzlich." (§ 10 Satz 1) "Das Briefgeheimniß ist gewährleistet." (§ 12 Satz 1) "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei." (§ 22 Satz 1).
Das "Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes" vom 27. Dezember 1848 beließ es nicht bei diesen abstrakten Sätzen, die über die Reichsverfassung von Weimar (1919) ganz oder teilweise ins Grundgesetz von 1949 tradiert wurden, wo sie in ihrer abstrakten Nüchternheit heute im Zweifel allein nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts Geltung beanspruchen.
Der Grundrechtskatalog von 1848 war detaillierter als jener des Grundgesetzes, und er lässt das von Hattenhauer beschriebene Ziel der Grundrechte, verstanden als Resultat des bürgerlichen Kampfes gegen den autoritären Staat, mit großer Klarheit erkennen.
Für eine Lektüre mit dem Ziel, den Verfassungsgerichtspositivismus der Gegenwart ein wenig gegen den Strich zu bürsten, könnte sich das Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes vom 27. Dezember 1848, wohl eignen. Und sei es nur, um die Orientierung an der deutschen Verfassungsgeschichte vor 1949 nicht allein den Wirrköpfen zu überlassen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Feiertagsfeuilleton: . In: Legal Tribune Online, 27.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17974 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag