Am 27. Dezember 1848 fertigte Erzherzog Johann von Österreich, der ein Amt mit dem Titel "Reichsverweser" trug, das "Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes". Eine schöne Bescherung, die leider nicht lange hielt.
Stünden die Herrschaften der sogenannten Reichsbürgerbewegung nicht im Verdacht, unter ihrem Alu-Hut vor allem einen Vogel zu pflegen – wohl eher eine Meise als den Reichsadler –, könnte man einem klitzekleinen Ansatz ihrer geschichtspolitischen Bemühungen vielleicht sogar etwas abgewinnen.
Ganz zaghaft, nur ein kleines bisschen und auch anders, als sie denken, aber immerhin.
So albern bis kriminell es ist, mit selbstgemalten Führerscheinpapieren umherzufahren und im Wahn zu leben, die Bundesrepublik Deutschland sei eine von fremden Mächten beherrschte GmbH, so putzig ist doch dieses kindliche Stampfen mit den Füßchen, mit dem die Behauptung einhergeht, nicht die geltende Verfassungsordnung sei die, auf die es ankommt, sondern irgendeine andere, frühere.
Zwar ist es historisch etwas einfältig, wenn stets auf einer Fortexistenz des 1870/71 konstituierten Deutschen Reichs beharrt wird. Warum verschenkt beispielsweise niemand sein Herz ans Heilige Römische Reich deutscher Nation, von dem man ja auch behaupten könnte, es sei 1806 gar nicht untergegangen und fürs Regieren sei in Deutschland nicht die Bundeskanzlerin, sondern der Bischof von Mainz in seiner Funktion als Erzkanzler des nur angeblich aufgelösten Imperium Sacrum zuständig?
Aber dem Aufstampfen mit den Füßchen könnte man etwas abgewinnen.
Kurze Parallelwertung in Narrensphäre
Einerseits sind Parallelweltwertungen in der Narrensphäre eine heikle Angelegenheit, man möchte ja niemanden in Verführung bringen. Andererseits zeigen sie vielleicht, dass es ein Defizit hierzulande darin gibt, wenn sich Menschen unterhalb der Geistesgaben von doppelt examinierten Juristen auf eine vermeintlich bessere ältere (Verfassungs-) Rechtsordnung berufen und sie mit dem positiven Recht der Gegenwart vergleichen möchten.
In Frankreich mögen sich linke Revoluzzer und liberale Gegenwartskritiker mühelos auf die Erklärung der Menschenrechte von 1789 beziehen. In den USA haben es die juristischen Freunde einer originären, am Interpretationsstand der jeweiligen Entstehungszeit orientierten Verfassungsauslegung sogar in den Supreme Court gebracht. Im Vereinigten Königreich wird sich mancher radikaliserte Hobbit vom Lande noch heute auf Blackstones "Commentaries on the Laws of England" berufen.
Allein in Deutschland ist das Feld von einigen zumeist rechtsradikalen Vögeln besetzt, die mit kruden verfassungsgeschichtlichen Annahmen operieren.
Das dürfte zu tun haben mit dem Geschenk, welches sich das deutsche Volk am 27. Dezember 1848 selbst gab, das im politischen Bewusstsein der Gegenwart aber keine Rolle mehr spielt: das "Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes". Um seine Bedeutungslosigkeit abzuschätzen, braucht man nicht erst den Vergleich mit der Präsenz der US-amerikanischen Bill of Rights zu ziehen oder mit dem Pathos der französischen Erklärung von 1789. Eines der schönsten Gesetze, die jemals in Deutschland beschlossen wurden, hat kaum jemand ernsthaft gelesen, ob Jurist oder Reichsbürger.
Eines der schönsten Gesetze Deutschlands
"Dem deutschen Volke sollen die nachstehenden Grundrechte gewährleistet sein", erklärt das Gesetz vom 27. Dezember 1848 erstmals in der deutschen Rechtsgeschichte. Mit dem Anspruch, über den Tag hinaus zu gelten, heißt es weiter: "Sie sollen den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten zur Norm dienen, und keine Verfassung oder Gesetzgebung eines deutschen Einzelstaates soll dieselben je aufheben oder beschränken können."
In neun Artikeln und 50 Paragraphen beschrieben die Grundrechte der Deutschen in erster Linie, aber nicht ausschließlich, die Freiheit des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt: "Die Deutschen sind vor dem Gesetze gleich." (§ 7 Satz 3) "Die öffentlichen Ämter sind für alle Befähigten gleich zugänglich." (§ 7 Satz 6) "Jeder Angeschuldigte soll gegen Stellung einer vom Gericht zu bestimmenden Caution oder Bürgschaft der Haft entlassen werden, sofern nicht dringende Anzeigen eines schweren peinlichen Verbrechens gegen denselben vorliegen." (§ 8 Satz 4). "Über Preßvergehen, welche von Amts wegen verfolgt werden, wird durch Schwurgerichte geurtheilt." (§ 13 Satz 3).
2/2: Als der Staat noch nicht dem Bürger gehörte
Die Normen des Reichsgesetzes, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes, wurden zunächst in die Paulskirchenverfassung von 1848 übernommen, und teilten ihr politisches Schicksal in dem gescheiterten Versuch, die deutsche Einheit auf verfassungsrechtlichem Weg, statt mit "Blut und Eisen" (Otto von Bismarck) zu erreichen. Der Bundestag des Deutschen Bundes, diese Veranstaltung der zumeist fürstlichen Souveräne Deutschlands, erklärte das Gesetz mit Beschluss vom 23. August 1851 für ungültig.
In seinem erstmals 1971 erschienenen Werk "Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des deutschen Rechts" äußerte der Kieler Zivilrechtslehrer und Rechtshistoriker Hans Hattenhauer (1931-2015), dass dieser "erste deutsche Grundrechtskatalog … Pflichtlektüre eines jeden gebildeten Deutschen sein müsste". Bei allen Vorbehalten gegen Pflichtlektürenverpflichtungen: Ganz falsch lag er damit gewiss nicht.
Hattenhauer beschrieb die Grundrechte von 1848 als Höhepunkt einer dramatischen Auseinandersetzung des deutschen Bürgertums mit dem anachronistischen Staat der Fürsten: "Es war gewiß nicht 'sein' Staat, den der Bürger von den Professoren verkündigt und bei Hofe repräsentiert fand. Er war nicht mehr bereit, an die unbedingte Güte eines Landesvaters zu glauben, den er als miserablen Schuldner kennengelernt hatte. Er wollte seine Arbeit nicht mehr als Gottesdienst begreifen. Zahlen und Prozente waren ihm wichtiger als Staatsmystik und frömmelnde Verbrämung restaurativer Staatspolitik."
Bis "die Gesellschaft sich im 20. Jahrhundert zur Unterwerfung des Staates stark genug fühlen sollte", sollten Staat und Gesellschaft in den 100 Jahren zwischen 1848/49 und 1949 getrennte Wege gehen. Dem so lange machtlosen Geist von 1848 widmete Hattenhauer starke Worte: "Nun wollte der Bürger eine eigene, unentziehbare Freiheit haben, wollte nicht Konzessionär von der Gnade des Staates sein, wollte 'Grundrechte' haben. In der rechtlichen Anerkennung der freien Willensbetätigung sah der Bürger das Ziel seines Kampfes gegen den Staat."
Gehören die Grundrechte den Gerichten?
"Die Freiheit der Person ist unverletzlich." (§ 8 Satz 1) "Die Wohnung ist unverletzlich." (§ 10 Satz 1) "Das Briefgeheimniß ist gewährleistet." (§ 12 Satz 1) "Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei." (§ 22 Satz 1).
Das "Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes" vom 27. Dezember 1848 beließ es nicht bei diesen abstrakten Sätzen, die über die Reichsverfassung von Weimar (1919) ganz oder teilweise ins Grundgesetz von 1949 tradiert wurden, wo sie in ihrer abstrakten Nüchternheit heute im Zweifel allein nach Maßgabe des Bundesverfassungsgerichts Geltung beanspruchen.
Der Grundrechtskatalog von 1848 war detaillierter als jener des Grundgesetzes, und er lässt das von Hattenhauer beschriebene Ziel der Grundrechte, verstanden als Resultat des bürgerlichen Kampfes gegen den autoritären Staat, mit großer Klarheit erkennen.
Für eine Lektüre mit dem Ziel, den Verfassungsgerichtspositivismus der Gegenwart ein wenig gegen den Strich zu bürsten, könnte sich das Reichsgesetz, betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes vom 27. Dezember 1848, wohl eignen. Und sei es nur, um die Orientierung an der deutschen Verfassungsgeschichte vor 1949 nicht allein den Wirrköpfen zu überlassen.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Feiertagsfeuilleton: Erster Anlass für Verfassungspatriotismus . In: Legal Tribune Online, 27.12.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17974/ (abgerufen am: 21.07.2024 )
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