Dekolonisation im Recht: Wem der Tabak gehört, dem gehört das Land

von Martin Rath

21.09.2014

2/2 Virtuell an Früchten ziehen reicht nicht

Ein Anspruch, den in Bremen angelandeten Tabak nach § 985 BGB herauszugeben, stand den Amsterdamer Aktiengesellschaften schon deshalb nicht zu, weil sie den OLG-Richtern nicht hatten plausibel machen können, dass ihnen der Konzessionsvertrag nach niederländisch-indischem Recht "ein dingliches Fruchtziehungsrecht, insbesondere ein Erbpachtrecht an dem von ihnen bewirtschafteten Grund und Boden zugestanden" habe.

Immobiliarrecht muss keine trockene Angelegenheit sein, wenn es mit fernöstlichem Adat-Recht gewürzt wird: "[Die] Konzessionsverträge, aus denen die Antragstellerinnen ihre Rechte ableiten, sind mit den damals in Indonesien regierenden Sultanen und sonstigen Reichsgroßen abgeschlossen worden, und diese Personen unterstanden unstreitig nicht dem europäischen Recht, sondern dem einheimischen Gewohnheitsrecht."

Welthandel nicht behindern

Zur Absicherung dieser mehr "zivilistischen" Begründung entfaltete das 46-seitige Urteil auf rund zehn Seiten eine Hilfsargumentation zur Rechtmäßigkeit der indonesischen Enteignungsakte nach völkerrechtlichen Maßstäben und zur Frage, ob nur der niederländische Staat oder auch die niederländischen Bürger aus einer etwaigen Völkerrechtswidrigkeit der Enteignung Ansprüche herleiten dürften – in letzterem sahen einige Gelehrte ein probates Mittel, "das noch primitive Völkerrecht fortzubilden".

Im Obiter dictum, ihrer eigentlich nicht die Entscheidung tragenden Urteilsbegründung, äußern die Bremer Richter Bedenken daran, Einzelpersonen und -unternehmen das Recht einzuräumen, als enteignete Eigentümer individuell gegen den enteignenden ausländischen Staat vorgehen zu dürfen: Selbst wenn der konfiszierende Staat durch die "Gerichte aller Staaten einheitlich" solcherart in die Haftung genommen werden könnte, "würde aber der gesamte Welthandel durch eine derartige Sanktion stark berührt und beunruhigt werden, besonders wenn der blockierte Staat zu Gegenmaßnahmen greifen würde".

Erweiterung der völkerrechtlichen Diskussion

Bemerkenswert sind mindestens zwei Veröffentlichungen, die an den "Bremer Tabakstreit" von 1959 anschlossen. 1964 publizierten die Hamburger Professoren Hans Dölle, Fritz Reichert-Facilides und Konrad Zweigert ihre als Gutachten zum Fall entstandene Broschüre "Internationalrechtliche Betrachtungen zur Dekolonisierung". Geäußert wird hier u.a. der Gedanke, dass sich im Völkerrecht eine allgemeine Pflicht zum Beendigung von Kolonialherrschaft entwickelt habe, deren Umsetzung unter Umständen von ethnisch nahestehenden Nachbarn auch gewaltsam gefördert werden könnte. Außerdem wird den entkolonialisierten Staaten eine gewisse, über das hergebrachte Völkerrecht hinausgehende Kompetenz zugeschrieben, ihre früheren Kolonialherren auch aus den wirtschaftlichen Machtpositionen zu entfernen.

In der "Juristenzeitung" (1964, S. 489-491) formulierte dagegen der Saarbrücker Völkerrechtler Ignaz Seidl-Hohenveldern unter anderem die Befürchtung: Wenn den in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien allzu großzügig zugebilligt würde, die "Entkolonisierung" auch an den Wirtschaftsgütern von Staatsangehörigen ihrer vormaligen Kolonialherren fortzusetzen, könnte dies dazu führen, "daß unter Berufung auf das Schlagwort des 'Neokolonialismus' auch nach der Entkolonisierung investiertes Auslandseigentum vogelfrei werden würde".

Diskussionen von gestern, Lehren für heute?

Eine "intervention d’humanité", das Eingreifen von Nachbarstaaten, um der "naturrechtlich" vielleicht gebotenen Dekolonisation auf die Sprünge zu helfen, lehnt er mit Blick auf die entsprechende NS-Außenpolitik ab und fragt, warum die moralische Pflicht, sich ihrer Herrschaftsgebiete zu entledigen nur für die "westwärts segelnden" Kolonialmächte Europas gelten sollte, nicht aber für die Nachfahren "Iwans des Schrecklichen" mit den kaukasischen und sibirischen Kolonien Russlands.

Auch das oben zitierte böse Wort von der Vorhersehbarkeit von Volksabstimmungen in Annexionsgebieten stammt von Seidl-Hohenveldern. Allgemein warnt er vor allzu großen Fortschrittsoptimismus, namentlich beim "Selbstbestimmungsrecht der Völker": "Auch europäische Rechtsideen haben im Lauf der Jahrhunderte grauenhafte Massaker nicht verhindern können, ja ausgelöst."

Im Gegensatz zum "ziegenbockartigen Neger", der den Kongo ohne nennenswerte Verwaltungs- und Rechtskultur regieren sollte und bereits 1961 bestialisch ermordet wurde, profitierten die Herrscher Indonesiens von einer gewissen inneren Ordnung. Vielleicht ein Anlass, sensibler auf das leise Klappern des Justizapparats neben "Sturmgeschützen der Demokratie" zu lauschen.

Hinweis: Soweit erkennbar ist das "Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Bremen vom 21. August 1959 im Bremer Tabakstreit" nur publiziert im "Archiv des Völkerrechts" Band 9  (1961/62), S. 318-363.

Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Dekolonisation im Recht: . In: Legal Tribune Online, 21.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13246 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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