Den Briten, Franzosen, Belgiern und Niederländern gingen die Kolonien abhanden. Auch die Justiz des kleinen Bremen hatte über die Folgefragen der Dekolonisation zu richten. Derweil stritten sich fortschrittliche mit besonders fortschrittlichen Juristen darüber, wer sich den indonesischen Tabak aneignen darf – während sich fortschrittliche Journalisten die übelsten Exzesse leisteten.
"Brüllend und bittend, drohend und beschwichtigend reist der schlaksige, ziegenbockbärtige Neger durch die Provinzen seines ruinierten Reiches", informierte ein führendes deutsches Medium im August 1960 darüber, was von Entkolonisierung zu halten ist. "Durch Savannen und Urwälder, mit Flugzeug und Auto, in elegantem Europäer-Dreß oder einer Häuptlingstracht", sei der frischgebackene Regierungschef eines der größten Länder der Welt unterwegs, also kostümiert, wie man es in westlichen Ländern nur von durchgedrehten politischen Wanderpredigern kannte.
Besonders angetan hatte es den vermutlich stets sauber rasierten SPIEGEL-Redakteuren im fernen Hamburg das Äußere eines afrikanischen Politikers, schrieb man noch Jahre später über den inzwischen ermordeten Ministerpräsidenten: "Am 24. Juni 1960 hatte der hochgewachsene, ziegenbärtige Postbeamte Lumumba, damals 34, nach einer legalen Wahl die Regierung der belgischen Kolonie Kongo übernommen. Sieben Tage später entließen die Belgier ihr Riesenreich am Kongo in die Unabhängigkeit."
Während man sich in Hamburg noch mit zweifelhaften Tiermetaphern über die gescheiterte Dekolonisation der riesigen Ex-Kolonie Belgiens lustig machte – das selbsterklärte "Sturmgeschütz der Demokratie" schrieb damit offenbar nicht am Weltbild seiner Leserschaft vorbei –, klärte man im benachbarten Bremen die überaus verzwickten Rechts- und Geschichtsfragen einer Ex-Kolonie der Niederlande vor Gericht. Und das auf denkbar höherem intellektuellen Niveau als in der SPIEGEL-Redaktion.
Der "Bremer Tabakstreit", der mit Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts (OLG) Bremen vom 21. August 1959 entschieden wurde (Az. 1 U 159/1959; 1 U 201/1959), fand noch fünf Jahre später ein bemerkenswertes publizistisches Nachspiel unter den distinguierten Herren der deutschen Völkerrechtswissenschaft. In dieser Diskussion um die Dekolonisation fielen dann 1964 so kluge und heute wieder aktuelle Sätze wie: "Die Ergebnisse einer Volksabstimmung, die eine annektierende Macht nach der Annexion veranstaltet, stehen in aller Regel von vornherein fest."
Ein Urteilstext wie ein romantischer Tropen-Traum
Anlass zur ausführlichen Diskussion, welche Konsequenzen die Entlassung der europäischen Kolonien in Afrika und Asien für die Entwicklung des Völkerrechts im Allgemeinen haben sollte, gaben einige große Ladungen indonesischen Rohtabaks aus der Ernte von 1958, die ab März 1959 im Bremer Hafen angelandet wurden. Zwei niederländische Aktiengesellschaften mit Sitz in Amsterdam machten einer deutsch-indonesische Gesellschaft gegenüber geltend, dass ihnen das Eigentum an über 5.000 Ballen Rohtabak zustehe. Diese stammten von ihren – vormaligen – Plantagen im früheren Niederländisch-Indien, dem 1949 in die Unabhängigkeit entlassenen Indonesien.
Die niederländische Plantagenwirtschaft hatte eine wechselhafte Rechts- und Eigentumsgeschichte hinter sich gebracht. Seit 1864 vergab beispielsweise der Sultan von Deli, ein regionaler Herrscher auf Sumatra, der sich drei Jahre zuvor unter niederländisches Protektorat gestellt hatte, erste Konzessionen nach dem Adat, einem bis heute paralleljustitiell angewendeten indonesischen Gewohnheitsrecht. Überlagert wurde das Adat durch Muster-Konzessionsverträge sowie das "Niederländisch-indische Bürgerliche Gesetzbuch (BGB)". Im Zweiten Weltkrieg animierte die japanische Besatzungsmacht die einheimische Bevölkerung, den Plantagenboden wieder selbst zu übernehmen. Zwischen 1945 und 1949 mühten sich die Niederlande in teils brutalen Militäraktionen, die Herrschaft zurückzuerobern – gebremst übrigens von den USA mit der Drohung, die Marshallplan-Hilfe für das gerade von deutscher Herrschaft befreite niederländische Mutterland einzufrieren.
Kolonialrechtssystem in einer Nussschale
Die Bremischen Richter nahmen in ihr Urteil spannende rechtshistorische Details auf, die ein Bild von der komplizierten Situation im fernöstlichen Herrschaftsraum der Niederländer gaben. Beispielsweise mussten die Muster-Konzessionsverträge, mit denen man die Plantagenwirtschaft ab den 1880er-Jahren leichter ausdehnen konnte, um Schutzrechte für Wohnsiedlungen und Begräbnisplätze ergänzt werden. Das ökonomische Regime war insgesamt nicht zimperlich: Noch in den 1990er-Jahren verstörte der niederländische Schriftsteller Geert Mak das moralische Selbstbild seiner Landsleute empfindlich mit der Auskunft, dass die Überlebenschancen von Plantagenarbeitern schlechter ausfielen als jene der westlichen Internierten in den berüchtigten japanischen Internierungslagern des Zweiten Weltkriegs.
Wesentliche Streitpunkte in Bremen betrafen die Frage, ob durch das Konzessionsrecht an den Plantagen ein "dingliches Recht" geschaffen worden sei, das über eine Anwendung des "niederländisch-indischen BGB" das Eigentum an den Früchten – dem Tabak – den Aktiengesellschaften in Amsterdam zuweise. Zudem wurde vorgebracht, dass die Enteignung der Plantagen seitens der indonesischen Regierung völkerrechtswidrig sei, unter anderem, weil nur niederländische Unternehmen betroffen waren und eine Entschädigung zwar angekündigt war, wegen fortbestehender Streitigkeiten zwischen den Niederlanden und Indonesien aber in den Wind zu schreiben sei.
2/2 Virtuell an Früchten ziehen reicht nicht
Ein Anspruch, den in Bremen angelandeten Tabak nach § 985 BGB herauszugeben, stand den Amsterdamer Aktiengesellschaften schon deshalb nicht zu, weil sie den OLG-Richtern nicht hatten plausibel machen können, dass ihnen der Konzessionsvertrag nach niederländisch-indischem Recht "ein dingliches Fruchtziehungsrecht, insbesondere ein Erbpachtrecht an dem von ihnen bewirtschafteten Grund und Boden zugestanden" habe.
Immobiliarrecht muss keine trockene Angelegenheit sein, wenn es mit fernöstlichem Adat-Recht gewürzt wird: "[Die] Konzessionsverträge, aus denen die Antragstellerinnen ihre Rechte ableiten, sind mit den damals in Indonesien regierenden Sultanen und sonstigen Reichsgroßen abgeschlossen worden, und diese Personen unterstanden unstreitig nicht dem europäischen Recht, sondern dem einheimischen Gewohnheitsrecht."
Welthandel nicht behindern
Zur Absicherung dieser mehr "zivilistischen" Begründung entfaltete das 46-seitige Urteil auf rund zehn Seiten eine Hilfsargumentation zur Rechtmäßigkeit der indonesischen Enteignungsakte nach völkerrechtlichen Maßstäben und zur Frage, ob nur der niederländische Staat oder auch die niederländischen Bürger aus einer etwaigen Völkerrechtswidrigkeit der Enteignung Ansprüche herleiten dürften – in letzterem sahen einige Gelehrte ein probates Mittel, "das noch primitive Völkerrecht fortzubilden".
Im Obiter dictum, ihrer eigentlich nicht die Entscheidung tragenden Urteilsbegründung, äußern die Bremer Richter Bedenken daran, Einzelpersonen und -unternehmen das Recht einzuräumen, als enteignete Eigentümer individuell gegen den enteignenden ausländischen Staat vorgehen zu dürfen: Selbst wenn der konfiszierende Staat durch die "Gerichte aller Staaten einheitlich" solcherart in die Haftung genommen werden könnte, "würde aber der gesamte Welthandel durch eine derartige Sanktion stark berührt und beunruhigt werden, besonders wenn der blockierte Staat zu Gegenmaßnahmen greifen würde".
Erweiterung der völkerrechtlichen Diskussion
Bemerkenswert sind mindestens zwei Veröffentlichungen, die an den "Bremer Tabakstreit" von 1959 anschlossen. 1964 publizierten die Hamburger Professoren Hans Dölle, Fritz Reichert-Facilides und Konrad Zweigert ihre als Gutachten zum Fall entstandene Broschüre "Internationalrechtliche Betrachtungen zur Dekolonisierung". Geäußert wird hier u.a. der Gedanke, dass sich im Völkerrecht eine allgemeine Pflicht zum Beendigung von Kolonialherrschaft entwickelt habe, deren Umsetzung unter Umständen von ethnisch nahestehenden Nachbarn auch gewaltsam gefördert werden könnte. Außerdem wird den entkolonialisierten Staaten eine gewisse, über das hergebrachte Völkerrecht hinausgehende Kompetenz zugeschrieben, ihre früheren Kolonialherren auch aus den wirtschaftlichen Machtpositionen zu entfernen.
In der "Juristenzeitung" (1964, S. 489-491) formulierte dagegen der Saarbrücker Völkerrechtler Ignaz Seidl-Hohenveldern unter anderem die Befürchtung: Wenn den in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien allzu großzügig zugebilligt würde, die "Entkolonisierung" auch an den Wirtschaftsgütern von Staatsangehörigen ihrer vormaligen Kolonialherren fortzusetzen, könnte dies dazu führen, "daß unter Berufung auf das Schlagwort des 'Neokolonialismus' auch nach der Entkolonisierung investiertes Auslandseigentum vogelfrei werden würde".
Diskussionen von gestern, Lehren für heute?
Eine "intervention d’humanité", das Eingreifen von Nachbarstaaten, um der "naturrechtlich" vielleicht gebotenen Dekolonisation auf die Sprünge zu helfen, lehnt er mit Blick auf die entsprechende NS-Außenpolitik ab und fragt, warum die moralische Pflicht, sich ihrer Herrschaftsgebiete zu entledigen nur für die "westwärts segelnden" Kolonialmächte Europas gelten sollte, nicht aber für die Nachfahren "Iwans des Schrecklichen" mit den kaukasischen und sibirischen Kolonien Russlands.
Auch das oben zitierte böse Wort von der Vorhersehbarkeit von Volksabstimmungen in Annexionsgebieten stammt von Seidl-Hohenveldern. Allgemein warnt er vor allzu großen Fortschrittsoptimismus, namentlich beim "Selbstbestimmungsrecht der Völker": "Auch europäische Rechtsideen haben im Lauf der Jahrhunderte grauenhafte Massaker nicht verhindern können, ja ausgelöst."
Im Gegensatz zum "ziegenbockartigen Neger", der den Kongo ohne nennenswerte Verwaltungs- und Rechtskultur regieren sollte und bereits 1961 bestialisch ermordet wurde, profitierten die Herrscher Indonesiens von einer gewissen inneren Ordnung. Vielleicht ein Anlass, sensibler auf das leise Klappern des Justizapparats neben "Sturmgeschützen der Demokratie" zu lauschen.
Hinweis: Soweit erkennbar ist das "Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts Bremen vom 21. August 1959 im Bremer Tabakstreit" nur publiziert im "Archiv des Völkerrechts" Band 9 (1961/62), S. 318-363.
Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Dekolonisation im Recht: Wem der Tabak gehört, dem gehört das Land . In: Legal Tribune Online, 21.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13246/ (abgerufen am: 21.07.2024 )
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