5/6: Inhaftiert werden dumme, nasse Alkoholiker
So grandios und intellektuell liebenswert die rabulistischen Leistungen der Strafrechtswissenschaft sind, so sehr hinterlässt die Strafrechtspraxis mitunter den Eindruck einer überforderten Kindergärtnerin, die nach einer Rauferei im Sandkasten den dümmsten und unsympathischsten Kampfzwerg zur Strafe in den Keller sperrt.
Man nehme die Ersatzfreiheitsstrafe, die ein Verurteilter zu verbüßen hat, wenn er Tagessätze seiner Geldstrafe nicht entrichtet hat. In der Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee wurden in den Jahren 1999, 2004 und 2010 Daten zu den "Ersatzstraflern" erhoben, was ihre rechtlichen, sozialen, psychologischen und – ansatzweise – psychiatrischen Umstände betraf. Ein kleines Zahlenspiel aus dem Jahr 2010:
Der Mittelwert ausstehender Geldstrafen lag bei 900 Euro. Ein Tag Haft kostet das Land Berlin circa 100 Euro. Überwiegend arbeitslos, mit einer Quote zwischen 34 Prozent (2010) und 77 Prozent (1999) alkoholabhängig, mit völlig unzureichender Schulbildung ausgestattet, sehr häufig als Heimkind aufgewachsen, alles andere als selten mit einer Geschichte vorangegangener Psychiatrie-Aufenthalte gesegnet: Die Befunde in Sebastian Schildbachs kriminologischer Dissertation zur Ersatzfreiheitsstrafe lesen sich wie ein moderner Charles-Dickens-Roman.
Wo es gelingt, die "Ersatzstrafler" dahin zu lotsen, ihre Geldstrafe durch gemeinnützige Arbeit abzudienen, sieht es etwas weniger schlimm aus. Sozialarbeiter helfen, aber da schimpfen so schlaue Köpfe wie Jan Fleischhauer bestimmt auch wieder. Noch eine Zahl für die Strafverteidiger unter unseren Lesern:
1999 waren rund 80 Prozent, 2010 immerhin noch 51 Prozent der befragten "Ersatzstrafler" ohne Hauptverhandlung nach Plötzensee gekommen.
Sebastian Schildbach: "Ersatzfreiheitsstrafe aus kriminologischer Sicht". § 43 StGB – funktional oder dysfunktional?
Epidemiologische Querschnittsuntersuchungen an Ersatzfreiheitsstrafern der Justiz-Vollzugsanstalt Berlin-Plötzensee in den Jahren 1999, 2004 und 2010. Unterensingen (Saturia) 2015. Dissertation zur Erlangung der Würde des Doktors der Dr. phil. Universität Hamburg. Vorsitzender: Prof. Dr. Olaf Asbach. Erstgutachter: Prof. Dr. Peter Wetzels, Zweitgutachter: Prof. Dr. Norbert Konrad. Drittgutachter: Prof. Dr. Bernd-Rüdeger Sonnen.
Martin Rath, Dissertations-Revue: . In: Legal Tribune Online, 27.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17012 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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