Die Serie zu spannenden Doktorarbeiten geht weiter. Dieses Mal gesellen sich zwei Promotionsschriften dazu, die ihren Verfassern zwar einen philosophischen Grad eingetragen haben, sich jedoch auf juristische Themen konzentrieren.
Erklärter Zweck der vorangegangenen Nummern unserer kleinen juristischen Dissertations-Auslese war es, zumindest ein bisschen Schaden abzuwenden, den das akademische Prüfungswesen erlitten hatte, weil prominente Politiker durch Plagiate zum begehrten Titel kommen wollten.
Inzwischen findet sich aber noch ein Grund, den juristischen Dissertationen mehr Aufmerksamkeit zu widmen: Die jungen Damen und Herren arbeiten systematisch, erkennen echte Regelungsprobleme jenseits des Gesetzeslückenwahns, denken über die betroffenen Lebenssachverhalte nach, sind fähig, empirisch und rechtsvergleichend zu forschen. Kurz: Sie verstehen ihr Handwerk. Jede Dissertation ist damit heute ein Mahnmal dafür, was Volksvertreter in ihrer Anfälligkeit für Populismen und boulevardkompatible Tagesordnungen gar zu oft nicht mehr leisten können oder wollen.
Lieben wir unsere Doktoranden also dafür, dass sie Maßstäbe setzen – und hoffen wir, dass Sie die Kürze und Bildhaftigkeit der Präsentation verzeihen mögen.
Mit Recht die Großstadt regeln?
Ob die Behördenleute wirklich keine rechtliche Handhabe finden oder einfach nur keine Lust haben – kaum geht die Temperatur über die 20-Grad-Marke hinaus, ist das großstädtische Nachteulen-Volk nicht mehr von der Straße zu bekommen.
In Köln beispielsweise treffen lärmgeplagte Anwohner und feierwütige Nachteulen an einem innerstädtischen Platz zusammen, in dessen Umgebung kaum einer der trägen Ordnungshüter selbst noch eine Wohnung neu mieten könnte, viel zu hoch ist das Mietniveau. Man siedelt sich auseinander.
In der Großstadt lernen Menschen, sieht man von der nächtlichen Dezibelproduktion ab, einander in "höflicher Nichtbeachtung" zu begegnen, urbane Heterogenität schafft Freiräume für Exzentrik und Kreativität, die zwischen den Eternitplatten der Mittelgebirgsdörfer seltener zur Blüte kommt. Dabei wird der Spaß so teuer, dass er selbst von jenen nicht mehr bezahlt werden kann, die ihn am Leben erhalten sollen.
Welche rechtlichen Einwirkungsmöglichkeiten der Staat de lege lata hat, Heterogenität in der Großstadt zu fördern und zu erhalten, legt Thomas Weigelt am Beispiel Berlins dar: "Die wachsende Stadt als Herausforderung für das Recht". Dissertation Hamburg 2015, Tübingen (Mohr-Siebeck) 2016.
Zur Argumentationsfigur der "einzig richtigen Entscheidung"
Unabhängig von Meinungsverschiedenheiten im Detail: Es zürnt und poltert und scherzt ein leibhaftiger BGH-Richter Woche für Woche in einer Hamburger Zeitung, die sich selbst als Mitteilungsblatt für die formal gebildeten Stände versteht.
Vor ausgewählterem - also juristisch gebildetem - Publikum muss sich der Richter derlei aufklärerischen Furors nicht bedienen, darf seine Argumentation sogar durch den rhetorischen Anschein der vorgeblich "einzig richtigen Entscheidung" immunisieren – ohne dass einer der Menschen in den lustigen Roben deshalb lachen würde.
In seiner Dissertation "Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung" untersucht Philipp Siedenburg den Wert dieser rhetorischen Immunisierungsstrategie. Darf beispielsweise ein Gericht wider besseres rechtswissenschaftlichen Wissen Alternativlosigkeit an- oder vortäuschen?
Dies ist kein Stoff für Entlarvungssüchtige, eher für philosophisch aufgeweckte Köpfe: Philipp Siedenburg: "Die kommunikative Kraft der richterlichen Begründung". Dissertation Hamburg 2015, Baden-Baden (Nomos) 2016.
Untersuchungen am Mobilitätsverbrechertum
Seit Gründung der Bundesrepublik hat sich der Fuhrpark der deutschen Bevölkerung fast verzwanzigfacht. In den 1970er Jahren erlitten Jahr für Jahr bis zu 20.000 Menschen den Verkehrstod.
Bis heute ist der Drang, sich in einem aus Blech und Plastik angefertigten Behälter fortzubewegen, derart stark ausgeprägt, dass mehr als die Hälfte jener über 70-Jährigen, die überhaupt noch vor einen Strafrichter kommen, eines Verkehrsdelikts beschuldigt werden.
Unter dem Titel "Straßenverkehrsdelinquenz in Deutschland" bereitet Andreas Reiff umfangreiches Zahlenmaterial zum deutschen Vekehrsverbrechertum auf, das gerne verharmlosend als Ausdruck von "Sünde" oder "Delinquenz" verharmlost wird. Es finden sich darin wichtige Henne-Ei-Fragen, beispielsweise, ob trinkende Fahrer oder fahrende Trinker das Hauptproblem ethanolgesteuerter Fahrkünste sind und wie ihnen aus dem Teufelskreis zu verhelfen sei.
Doch Scherz beiseite, eine bemerkenswerte Studie zu einem Feld, auf dem sich nahezu jedermann leicht als Täter wiederfinden kann: Andreas Reiff: "Straßenverkehrsdelinquenz in Deutschland. Eine empirische Untersuchung zu Deliktformen, Sanktionierung und Rückfälligkeit". Dissertation Göttingen 2014, Göttingen (Universitätsverlag) 2015 – auch als PDF online.
Abgeordnete und ihre Begeisterung für "langweilige" Themen
Wenn sie möchten, können sie mit amtsunüblicher Eile sogar umstrittene, in ihrer Notwendigkeit aber zweifelhafte Gesetzänderungen bewirken. Das zeigten die stolzen 600 Bundestagsabgeordneten, als sie unlängst dem deutschen Volk einige neue Sexualstrafrechtsregeln bescherten.
Ob sie jemals derart viel Aufmerksamkeit und Emsigkeit auf weniger schicke Themen verwenden würden? In der Hallenser Dissertation "Stärkung der Rechtsposition von Heimbewohnern" wird ein vom sogenannten Wettbewerbsföderalismus teilweise demoliertes, für die Betroffenen mitunter arg problematisches Rechtsgebiet aufbereitet.
Wer wüsste schon, dass in manchen Bundesländern die Standards für die Beseitigung unverantwortlicher Heimleitungen niedriger gehalten werden als in anderen? Warum sind die Rechtsverhältnisse des Alters nicht überhaupt viel früher Gegenstand der juristischen Ausbildung?
Jan-Dirk Laker schlägt unter anderem ein "Heim- und Pflegegesetzbuch" vor. Kein Thema zwar für boulevardtaugliche Rechtspolitik, aber dringend zu diskutieren.
Jan-Dirk Laker: "Stärkung der Rechtsposition von Heimbewohnern. Analyse der Situation und des gesetzlichen Schutzes von Personen in Pflege- und Altenheimen in Deutschland (bei institutioneller Unterbringung)", Dissertation Halle 2014, Chemnitz (Verlag GUC) 2015.
Wenn der Stromversorger den Fernsehgeschmack kennt
Deutschland rühmt sich (noch) eines Stromnetzes von Weltrang, während z.B. das Netz in den USA gelegentlich an Dritte-Welt-Verhältnisse erinnert. Eine Chance, den guten Versorgungsstandard zu halten, trotz unstetig werdender Stromerzeugung mittels Wind und Sonne, wird in der besseren Erfassung der Verbrauchsdaten beim Endkunden gesehen.
Die sogenannten intelligenten Stromnetze ("Smart Grids") stellen derweil eine Herausforderung an das Datenschutzrecht dar. Beispielsweise ist es möglich, anhand der jeweiligen Verbrauchsprofile zu ermitteln, welche Elektrogeräte gerade in einem intelligent erfassten Haushalt laufen.
Welche TV-Sendungen gesehen werden, verraten Ein- und Ausschaltzeiten schon ohne abgefeimtes elektronisches Feintuning, dies ähnelt ein wenig dem Wasserdruck während der Pausen populärer Fußball-Übertragungen. Aus einer jährlichen Datenerfassung (Stromzähler-Ablesung) werden tausende bis hunderttausende Einzeldaten extrahiert. Wirklich wichtige juristische Literatur zum Problem:
Johannes Franck: "Smart Grids und Datenschutz. Verarbeitung von Energiedaten in intelligenten Stromnetzen aus datenschutzrechtlicher Perspektive". Dissertation Münster/Westf. 2015, Frankfurt (Peter Lang) 2016.
Armut und ihre Nachteile in Strafverfahren
Man halte sich vor Augen, mit welchem Feuereifer 4-jährige Kinder in den Ferien auf dem Bauernhof bei der Ernte mithelfen wollen. Oder, wem dies zu trivial ist: Wie schwer man sich trotz aller Law-and-order-Selbstinszenierungen in Bayern damit tat, den bekannten Fußball-Funktionär Ulrich Hoeneß von der Arbeit abzuhalten.
Diese Dissertation handelt unter anderem vom bekannten Problem: Wer über wenig Geld verfügt, landläufig also als arm zu gelten hat, ist im System des deutschen Strafrechts von einem höheren Risiko bedroht, die Tagessätze einer Geldstrafe in Form der Ersatzfreiheitsstrafe effektiv abzusitzen.
Freie, gemeinnützige Arbeit kann und sollte nach landesrechtlichen Maßgaben vor diesem Elend schützen. Das hat, immerhin, die Landespolitik entdeckt.
Fraglich ist, was geschieht, wenn sinnvolle ehrenamtliche Beschäftigungsmöglichkeiten knapp werden. "Industrie 4.0" heißt bekanntlich: Mehr Freizeit bei weniger Einkommen. Strafverteidiger und Sozialarbeiter begegnen schon heute Kandidaten für Ersatzfreiheitsstrafen, die das Gefängnis einer sinnlosen Beschäftigung vorziehen. Wie wird sich in Zukunft der Feuereifer auf Arbeit darstellen, die als sinnvoll erlebt wird?
Frank Wilde: "Armut und Strafe. Zur strafverschärfenden Wirkung von Armut im deutschen Strafrecht". Dissertation Halle 2015, Wiesbaden (Springer) 2016.
Endlich denkt mal jemand an die Kinder
Neben dem Verlust des eigenen Kindes durch den Tod dürfte seine Entführung oder sein Verbleib in einem fremden Land, fern dem verwaisten Elternteil, zu den emotional aufrührendsten Begebenheiten zählen, die im Leben eines Vaters oder einer Mutter auftreten können.
Die rechtliche Regelung der mit letzterem einhergehenden Konflikte ist über die emotionale Empörung der Betroffenen hinaus gern mit einem Schuss Patriotismus, gelegentlich Rassismus, vermischt, man vergleiche dazu nur Betty Mahmoodys Weltbestseller "Nicht ohne meine Tochter".
Frei von falschen Gefühlsregungen bleiben auch die nationalen Gerichte nicht. Umso beeindruckender ist es, dass sich im europäischen Rahmen ein feines Geflecht rechtlicher Regeln zu grenzüberschreitenden Sorgerechtskonflikten entwickeln konnte. Am Beispiel deutscher und britischer Gerichte zeigt Robin Sühle nicht zuletzt, wie viele Unklarheiten hier gleichwohl noch bestehen.
Darüber, wie sehr das Leben der unzähligen binationalen, europäischen Ehen durcheinander gebracht werden könnte, wenn das Modell "Brexit" die Runde macht, möchte man gar nicht nachdenken.
Robin Sühle: "Der Einwand des Kindeswohls bei der Durchsetzung ausländischer Entscheidungen in grenzüberschreitenden Sorgerechtskonflikten". Dissertation Göttingen 2014, Göttingen (Universitätsverlag) 2015 – auch als PDF online.
Wie Gerichte dem NS-Staat dienten
"Das Kölner Beispiel zeigt […] eindrucksvoll, dass bei Vorliegen entsprechender politischer und ideologischer Rahmenbedingungen bereits ein zentral vorgegebener grob abgesteckter allgemeiner Handlungsrahmen ausreicht, um zum lokalen Selbstläufer zu mutieren und dort eine weitgehend regimekonforme Strafrechtspraxis zu etablieren."
In seiner Bonner Dissertation porträtiert Thomas Bichat die Kölner Staatsanwaltschaft der Jahre 1933 bis 1945. Von den berüchtigten "Richterbriefen" als zentralem Steuerungsmittel der NS-Justiz hat man gehört, aber wie kamen die Lenkungsversuche aus Berlin in der rheinischen Provinzstadt Köln an? Und bedurfte es ihrer überhaupt oder genügte die viel zitierte Ideologieanfälligkeit der Juristen?
Die Rechts-, Justiz- und Behördengeschichte des NS-Staats wird nach wie vor in vielen Detailstudien aufgearbeitet, gerade in Bonn wird hier viel geleistet. Zugegeben, dem nicht fachhistorisch interessierten Publikum mag sich ihr Sinn nicht immer erschließen. Wie spannend wäre stattdessen zum Beispiel eine Studie zum politischen Einfluss auf die Staatsanwaltschaft Bonn von 1949 bis 1999? Oder eine zur Rechts- und Behördengeschichte Sachsens nach 1990?
Seien wir froh, dass viele Akten erhalten geblieben sind und man sich ihrer rechtshistorisch annimmt. Es könnte gut sein, dass die Rechts- und Staatspraxis nach 1945 niemals so gut erschlossen wird. Das soll keine Gleichsetzung sein, mehr der Hinweis darauf, dass man Behördengeschichte/-soziologie greifen sollte, wo man sie nur bekommt:
Thomas Bichat: "Die Staatsanwaltschaft als rechts- und kriminalpolitische Steuerungsinstanz im NS-Regime. Dargestellt am Beispiel des Kölner Sondergerichts von 1933-1945". Dissertation Bonn 2015, Baden-Baden (Nomos) 2016.
Martin Rath, Acht spannende Dissertationen zu Rechtsthemen: Spionierende Stromversorger und rasende Rentner . In: Legal Tribune Online, 17.07.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20026/ (abgerufen am: 19.07.2024 )
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