Rechtsgeschichten 1914: Appetit und Bauchgefühl

von Martin Rath

18.05.2014

2/2: Korkengeld statt Sektsteuer

Die sogenannte Sektsteuer, die 1902 eingeführt wurde, um mit 10 Pfennig je abgesetzter Obstschaumwein- und mit 50 Pfennig je Weinsekt-Flasche dem Staatshaushalt des – aus heutiger Perspektive – chronisch unterfinanzierten deutschen Kaiserreichs Einnahmen zu verschaffen, zählt zu den zähen deutschen Steuer-Legenden: Obschon sie einst dazu diente, dem Kaiser seine Kriegsflotte zu finanzieren, müsse sie der heutige Champagner-Freund immer noch bezahlen. Das ist steuerhistorisch nicht ganz richtig, vor allem ist die Idee der Sektsteuer aber auch abgedroschen. Wie wäre es, mit Blick auf ein Urteil des Reichsgerichts (v. 14.5.1914) mit einer wirtschaftsstrafrechtshistorischen Ergänzung?

Das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb in der Fassung des Jahres 1909 verbot erstmals ausdrücklich die Bestechung von Angestellten zur Absatzförderung. Trotzdem zahlte ein französischer Champagner-Exporteur aus Reims jedem Kellner, der eine seiner Flaschen an den deutschen Schaumweinfreund brachte, ein sogenanntes "Korkengeld" von 25 bis 50 Pfennig je Flasche, nach damaliger Kaufkraft beileibe kein Taschengeld.

Während das Landgericht Hamburg die Handelsvertreter des Champagner-Fabrikanten aus Reims freisprach, weil die Kellner diesen wirtschaftlichen Vorteil nicht gegen das Interesse ihres Dienstherren bezogen, betonte das Reichsgericht, dass die Endabnehmer nicht in ihrer Produktwahl manipuliert werden dürften. Eine Art objektiver Schutz der Wettbewerber war damit geschaffen.

Vielleicht taugt die Anekdote von der Angestelltenbestechung aber doch nicht für launige Erzählungen. Noch bevor das Urteil (Az. III 140/14, RGSt 48, 291-297) in den Druck ging, standen im September 1914 deutsche Truppen vor Reims. Die Beschädigung, ja Zerstörung der Kathedrale, die verwunschen propagandistische Rechtfertigung – all das wirkt wie eine boshafte Champagnerlaune unter kulturfeindlichen Militärs.

Steampunks im Reichsgericht?

Kriegerische Untertöne finden sich bei den höchsten deutschen Richtern dagegen erst im Herbst 1914, in einem Urteil über den Schutz von Patentansprüchen französischer Erfinder. Darüber, ob ein eigenartig gedrechselter Flugzeug-Propeller in Deutschland Prioritätsrechte genieße, befand der erste Zivilsenat des Reichsgerichts am 26. Oktober 1914 (Az. I 83/14). Am Argument, dass durch den Kriegszustand die privatrechtlichen Ansprüche eines französischen Flugzeugherstellers keinen Schaden nähmen, solange der deutsche Staat keine repressiven Gesetze erlasse, drechselten die Leipziger Richter übertrieben aufwendig: Im Gegensatz zum Feind, lobte man sich selbst, betreibe Deutschland nicht die wirtschaftliche Schädigung der Privatleute. Zudem habe der französische Anspruchsteller die Priorität seines Propellers in Deutschland schon vor Kriegsbeginn geltend gemacht.

Nach ihren prinzipiell-gedrechselten Antworten auf die Rechtsfragen des Begehrens scheinen sich die Reichsgerichtsräte dann aber tief über die flugzeugtechnischen Fachzeitschriften gebeugt zu haben. Denn sie legten in ihrem Urteil dar, dass der Propeller des Franzosen schon so hinreichend fachpublizistisch beschrieben worden sei, unter anderem von Amerikanern namens "Wright", dass dem Prioritätsanspruch des Klägers aus Paris die sachliche Grundlage fehle.

Das ist vielleicht noch die überraschendste Seite an diesen alten Fraktur-Texten des Reichsgerichts: Nicht der liberale Positivismus seiner juristischen Figuren ist etwas fremd geworden, sondern der Geist von Technik und Fortschritt, der diese Richtergestalten umwehte.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten 1914: . In: Legal Tribune Online, 18.05.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12004 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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