Er hielt Lesben für schlecht gelaunt und Schwule für Linkshänder, seine 1912 gedruckte Doktorarbeit wirft einen langen Schatten auf die heutige Urheberrechtsdiskussion und im US-Exil erfand er die Viktimologie mit. Der vor 125 Jahren geborene Kriminologe Hans von Hentig gehört zu den wohl schrägsten Köpfen der deutschen Jurisprudenz. Ein Gedenkstück von Martin Rath.
Ob es wohl angehende Juristen, die sich davor fürchten, im Staatsexamen zu scheitern oder bereits durchgefallen sind, beruhigen darf, dass aus Hans von Hentig dann doch noch etwas geworden ist, sogar innerhalb der juristischen Disziplin? Geboren wurde dieser abenteuerliche Strafrechtsprofessor am 9. Juni 1887 als Sohn eines von höchsten Regierungskreisen des Kaiserreichs mandatierten, frisch geadelten Rechtsanwalts in Berlin, gestorben ist er am 6. Juli 1974.
Zwei Mal fiel Hans von Hentig durch die Erste Staatsprüfung. Trotzdem promovierte ihn 1912 ein Münchener Professor mit der Arbeit "Der strafrechtliche Schutz des literarischen Eigentums" zum Doktor der Rechte. Interessant ist an dieser Doktorarbeit nicht so sehr, dass bayerische Doktorväter damals nicht viel um die Staatsexamensergebnisse gaben – und vielleicht mehr auf den sozialen Status des Herrn Papas schauten.
Soll man die Rechte an künstlerischen Produkten als "geistiges Eigentum" bezeichnen oder ist schon der Begriff "geistiges Eigentum" unsinnig? Der nachgeborene Leser findet erstaunlicherweise in Hans von Hentigs knapp 100-seitiger Dissertation von 1912 bereits den – mit Verlaub! – gleichen Quark, der jeder Online-Diskussion zum Urheberrecht angerührt wird. Dem sehr forsch formulierenden Doktoranden schmeckte etwa der vor 100 Jahren neue dogmatische Begriff vom "Immaterialgüterrecht" offenbar nicht so ganz – "geistiges Eigentum" wäre ihm lieber gewesen: "Der moralische Akzent auf Worten wie Blutschande, Ehebruch, Hochverrat und Majestätsbeleidigung hat sicher viel zur Verhütung dieser Delikte beigetragen. Es wäre grundfalsch, wollte man die Bezeichnung Eigentum und ihre eingewurzelte geheiligte Kraft nicht zum Aufbau von rechtlichen Abscheugefühlen benutzen, die der Jugend des Rechtsguts entsprechend sich bisher nur unvollkommen haben bilden können."
Politischer Radikalismus, Kriminologie, Exil
Was die Frage nach einem Vorbild für mehrfach im Staatsexamen Gescheiterte angeht, geben die nächsten zwei Lebensjahrzehnte von Hentigs kein rosiges Bild – eher ein braun-rotes. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er zunächst an der Westfront, wurde nach Bulgarien versetzt, nahm an der Somme-Schlacht teil, fand sich zwischenzeitlich beim osmanischen Verbündeten in Istanbul, Aleppo und Damaskus.
Zwischen 1919 und 1922 engagierte sich von Hentig zunächst im Freikorps Oberland, dessen Personal wenige Jahre später zu weiten Teilen nationalsozialistische Organisationen gründete. Das Freikorps wurde gegen die Münchener Räterepublik eingesetzt, Mitglieder waren an Fememorden und dem Hitler-Putsch von 1923 beteiligt. Zu diesem Zeitpunkt war von Hentig bereits ins politisch entgegengesetzte Lager gewechselt, hatte Kontakte zum nationalbolschewistischen Flügel der KPD geknüpft und war an der Planung eines kommunistischen Aufstands in Sachsen und Thüringen beteiligt. Als dies 1925 der Justiz bekannt wurde, floh von Hentig ins Ausland, um nach einer Amnestie 1926 zurückzukehren.
In den Folgejahren betrat von Hentig wieder eine rechtswissenschaftliche Laufbahn. Der Zeit entsprechend war er an Ideen von Rassenhygiene und Täterstrafrecht orientiert – seine im Frühjahr 1933 publizierte Schrift "Eugenik und Kriminalwissenschaft" handelt etwa von der biologisch begründeten Ausgrenzung "des" Kriminellen aus der guten Gesellschaft. Zugleich blieb von Hentig Gegner der Todesstrafe und lehnte das NS-Strafrecht ab. 1929 in Gießen habilitiert, war er 1930/31 nach Kiel gekommen, zunächst als Lehrstuhlvertreter, dann als ordentlicher Professor für Strafrecht und Kriminologie. Damit war es bald wieder vorbei, als die Kieler Universität zur NS-"Stoßtruppuniversität" erklärt wurde. Nach 1933 sollte hier die "Kieler Schule" das NS-Strafrecht mitzuprägen versuchen. Den "Nationalbolschewisten" von Hentig enthob man 1935 seiner Professur.
Im US-amerikanischen Exil dürfte von Hentig, trotz der materiellen Not, der kaum ein Emigrant entging, davon profitiert haben, in Deutschland kein ordentlich examinierter Jurist gewesen zu sein. Deutsche Dogmatiker hatten kaum eine Chance, an einer US-Universität zu reüssieren. Hentig erhielt hingegen 1936 eine Assistenzprofessur an der Yale Law School und wurde als Sachverständiger des Generalstaatsanwalts von Washington beschäftigt. In Colorado nahm er maßgeblich an einer umfangreichen kriminalwissenschaftlichen Untersuchung teil. 1948 erschien sein Buch "The Criminal and his Victim", das die kriminalwissenschaftliche Schule der Viktimologie, die Lehre vom Tatopfer, mitbegründete.
Lesben haben schlechte Laune und Schwule sind Linkshänder
Im Jahr seines Todes, 1974, sollte die "Bild"-Zeitung Hans von Hentigs Monographie "Die Kriminalität der lesbischen Frau" (2. Aufl., 1965) nutzen, ihre Leser über diese merkwürdige Minderheit 'aufzuklären'. Zur Auflagen- und Blutdrucksteigerung taugen insbesondere seine Schriften zur Sexualität bis heute.
So sind von Hentigs 'Erkenntnisse' zu der Frage, warum Menschen typischerweise zum Täter oder zum Opfer werden, überwiegend krude. In der Schrift zur "Kriminalität der lesbischen Frau" bemäkelt er, dass "Homophile in Amerika den Euphemismus 'gay'" in Verkehr gebracht hätten, zu Deutsch "wohlgelaunt, … lebenslustig". Von Hentig kritisiert: "Wir wissen, daß die Homophilen meistens nicht sehr heiter sind und daß die Selbstmordziffern gegen die Benennung sprechen."
Mit solcherart "Empirie" wird eine Art depressiv-aggressiver Menschentypus konstruiert, der aufgrund seiner charakterlichen Anlage in allerlei Verbrechen und anderen unschönen Lebenslagen auftritt – dargebracht auf 100 Seiten Kolportage aus Polizei- und Presseberichten sowie literarischer und mythologischer Fiktion.
Krude Kolportage, wiederum in der wissenschaftlichen Schriftenreihe der renommierten "Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung" erschienen, bietet auch "Die Kriminalität des homophilen Mannes" (2. Aufl., 1966). Im Mittelpunkt steht hier nicht die Kriminalisierung homosexueller Männer durch § 175 Strafgesetzbuch (StGB), sondern ihre konstitutionelle Gestörtheit. Die Methode gleicht der "Lesben-Empirie". Zunächst wird ihre Existenz als soziale, ja biologische "Störung" definiert, die zu kriminellem Verhalten motivieren kann, ja muss. Apodiktisch heißt es etwa: "Homosexuelle töten ihre Ehefrauen."
Für die polizeiliche Ermittlungsarbeit gewiss von ähnlich großem Interesse ist die Erörterung zur "Theorie", dass "unter Homosexuellen etwa doppelt soviel Linkshänder vorkommen als unter Heterosexuellen" – bei erschlagenen Ehefrauen sollte man demnach wohl dem frischgebackenen Witwer gut auf die Hände gucken.
Masturbierender Kanarienvogel versus Reichsgericht
Weil Männer und Frauen untereinander und miteinander noch nicht genug Unfug anstellen können, nahm sich Hans von Hentig in eigensinniger Methode auch der "Soziologie der zoophilen Neigung" an (1. Aufl., 1962), das mit einer bemerkenswerten rhetorischen Fehlleistung beginnt, fragen wir uns doch bei der Lektüre des folgenden Satzes, wer hier "wir" ist: "Wir schöpfen Tieren ihre Lebenskräfte ab, nachdem wir sie durch Zähmung unterworfen haben. […] Ja, manchmal beuten wir den Körper des gezähmten, unserm Eingriff ausgesetzten Tieres aus, um dem sexuellen Drange nach Entspannung zu genügen."
Der Empiriker von Hentig lobt in dieser Monographie die ältere deutsche Polizei dafür, dass sie die beiden Tatbestände des § 175 StGB, der zwischen 1872 und 1935 die "widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren" enthielt, in ihrer Kriminalstatistik sauber trennte. Die Justiz hatte mit dem Trennen mehr Probleme.
Nach 1933 hatten nämlich der NS-Gesetzgeber und die ihm folgende Strafjustiz den Begriff der "Unzucht", soweit er homosexuelle Männer betraf, dahingehend verschärft, dass nicht erst "beischlafähnliche Handlungen" zur Strafbarkeit genügten, sondern die sexuelle Erregung eines der Beteiligten für die Tatvollendung ausreichte.
Dass diese strafbegründende Konstellation im Verhältnis Mensch-Tier nicht galt, urteilte das Reichsgericht am 26. Januar 1939 in einem Fall, in dem ein Mann "wiederholt seinem Hund am Geschlechtsteile gespielt und daran herumgerieben" hatte (RGSt 73, 88-89, Az. 5 D 922/38). Weil der Mann dabei offenbar keine Befriedigung für sich gesucht hatte, verwies das RG zur weiteren Tatsachenermittlung zurück und stellte den Vorinstanzen anheim, nach gesundem Volksempfinden die Menschenwürde des Hundefreundes gegebenenfalls durch analoge Anwendung des Sodomie-Tatbestands zu schützen.
Mit Burt Lancester wurde 1962 unter dem Titel "Birdman of Alcatraz" die Geschichte eines US-Strafgefangenen verfilmt, der in der Isolationshaft zum Hobbyornithologen geworden war. Einer seiner Kanarienvögel, vom Weibchen ferngehalten, "masturbierte". Hans von Hentig polemisierte nun gegen das Reichsgericht des Jahres 1939:
"Wenn der Gefangene den Vogel lockte, in seinem Herzen als Gefangener sexuelle Regung hatte, war dann der Tatbestand der Sodomie gegeben, sobald der Vogel auf dem Menschenfinger masturbierte?"
Zurzeit wird der strafrechtliche Schutz der Würde von Tieren gefordert. Man darf gespannt sein, ob sich dann die deutsche Strafjustiz demnächst bei einem "Sodomiestraftatbestand 2.0" eher auf die Seite des Reichsgerichts oder des kruden Kriminologen schlagen wird.
"Uns" ist derweil der schlimmste Missbrauch des Tieres: Wurst.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Hans von Hentig (1887-1974): . In: Legal Tribune Online, 08.07.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6557 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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