Sachverständige sollen den Politikern helfen, die Folgen des Haushaltsurteils abzuschätzen. Die Kernfragen: Was ist mit den Energiepreisbremsen? Kann der Etat 2024 beschlossen werden? Und wie sieht's mit dem laufenden Haushalt 2023 aus?
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum zweiten Nachtragshaushalt 2021 und den damit verbundenen Implikationen für die Schuldenbremse im Allgmeinen (Urt. v. 15.11.2023, Az. 2 BvF 1/22) stehen nunmehr sämtliche Nebenhaushalte des Bundes auf dem Prüfstand. Das Finanzministerium (BMF) hat deshalb im Etat des laufenden Jahres vorsorglich Finanzzusagen für die Zukunft gesperrt. Denn man kann sich gerade nicht sicher sein, welche Gelder in den kommenden Jahren überhaupt noch fließen können.
Mit der neuesten Sperre dürfen die für 2023 geplanten Mittel zwar weiter ausgegeben werden. Doch die Ministerien dürfen keine Versprechen für 2024, 2025 und 2026 mehr machen. Die sogenannten Verpflichtungsermächtigungen wurden für den Fall vorsorglich gesperrt, dass das BVerfG-Urteil auch auf ältere Rücklagen in anderen Sondervermögen anzuwenden ist.
Ob sich das BVerfG-Urteil nun wirklich auf alle Rücklagen bezieht und wie gegebenenfalls damit umzugehen ist, sollen jetzt Staatsrechtler und Ökonomen klären. Im Haushaltsausschuss gibt es am Dienstag eine Anhörung von Sachverständigen. Sollten sie zu dem Schluss kommen, dass auch ältere Rücklagen betroffen sind, hätte die Bundesregierung ein noch viel größeres Problem als bisher angenommen. Denn es fehlten dann nicht nur 60 Milliarden Euro für Klimaprojekte und die Modernisierung der Wirtschaft. Man hätte dann auch Milliarden an Euro bereits ausgegeben, die man gar nicht hätte haben dürfen, etwa für die Energiepreisbremsen.
Zu beachten ist insoweit, dass in den Stellungnahmen der Sachverständigen für die Anhörung im Haushaltsausschuss bereits große Bedenken anklingen. So hält beispielsweise der Bundesrechnungshof (BRH) die Bundeshaushalte für 2023 und 2024 "in verfassungsrechtlicher Hinsicht für äußerst problematisch".
Fragen und Antworten zur aktuellen Lage
Das BVerfG hatte die Umschichtung von Corona-Krediten in den Klima- und Transformationsfonds (KTF) für nichtig erklärt. Das begründete der Zweite Senat unter anderem damit, dass der Bund die Ausnahmeregel der Schuldenbremse nicht ausnutzen dürfe, um Kredite auf Vorrat anzuhäufen.
Nun ist unter anderem offen, ob der Etat für das kommende Jahr unter diesen Umständen in den nächsten Tagen überhaupt beschlossen werden kann. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sieht auch Kredite für die Energiepreisbremsen wackeln, die aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) bezahlt werden - und warnt vor bald steigenden Kosten für die Bürger.
Welche Sondervermögen hat der Bund überhaupt?
Einer Aufstellung des BRH zufolge unterhält der Bund aktuell 29 Sondervermögen. Diese Nebenhaushalte sind keineswegs eine Erfindung der Ampel-Regierung: Das älteste stammt aus dem Jahr 1951 und förderte den Bau von Wohnungen für Bergarbeiter. Es gibt zum Beispiel auch Fonds zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen am Arbeitsleben, einen Binnenschifffahrtsfonds, ein Sondervermögen zum Ausbau von Kita-Plätzen und eins für digitale Infrastruktur.
Die neuesten Sondervermögen sind Wirtschaftshilfen wegen der Corona-Krise, Aufbauhilfen für Flutopfer, der 100 Milliarden Euro schwere Sondertopf für die sicherheitspolitische "Zeitenwende" der Bundeswehr sowie der Topf für die Energiepreisbremsen nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Gerade die Energiepreisbremsen stehen nun auf tönernen Füßen, denn sogar Habeck selbst hatte am Montag in mehreren Medienauftritten seine Einschätzung kundgetan, dass das BVerfG-Urteil neben dem KTF auch den WSF betreffen könnte. Gleichzeitig schob er die Verantwortung für die möglicherweise wieder steigenden Energiekosten der Union zu, die das BVerfG-Urteil vergangene Woche erst erstritten hatte.
Könnten pauschal alle Sondervermögen vom Karlsruher Urteil betroffen sein?
Nein – und das aus mehreren Gründen. Zum einen äußerte sich das BVerfG nur zu schuldenfinanzierten Sondervermögen. Es gibt aber auch Töpfe, die sich durch eigene Einnahmen finanzieren. Ein Beispiel ist das European-Recovery-Program-Sondervermögen, das ursprünglich mit Mitteln aus dem amerikanischen Marshall-Plan ausgestattet wurde. Laut Rechnungshof ist aber der überwiegende Teil der Sondervermögen kreditfinanziert: Ende 2022 gab es demnach noch ein Verschuldungspotenzial von rund 522 Milliarden Euro.
Ausgenommen vom Haushaltsurteil dürften im Grunde auch solche Sondervermögen sein, die vor Einführung der Schuldenbremse entstanden. Denn Art. 143d Grundgesetz (GG) regelt, dass nur Kreditermächtigungen für die Schuldenbremse angerechnet werden, die nach 2010 bewilligt wurden.
Was ist mit dem Geld für die Bundeswehr?
Auch das ist nach bisheriger Auffassung in der Ampel-Koalition nicht unmittelbar betroffen. Grund dafür ist, dass der Bundestag den mit Krediten in Höhe von 100 Milliarden Euro gefüllten Topf separat im Grundgesetz verankert hat. Mit Zustimmung der Union wurde in der Verfassung nicht nur festgeschrieben, wofür das Geld genutzt werden darf, sondern auch, dass die Schuldenbremse hier nicht greift. Darauf hatte besonders die FDP bestanden, um die Mittel extra gut abzusichern, was sich nun bezahlt macht.
Was passiert, wenn der Fonds für die Energiepreisbremsen – der "Doppelwumms" – betroffen ist?
Ähnlich wie der vom BVerfG kritisierte KTF wurde der WSF quasi mit Krediten auf Vorrat ausgestattet. Der Bund bewilligte im Jahr 2022 Kredite in Höhe von 200 Milliarden Euro, um die hohen Strom-, Gas- und Fernwärmepreise abzufedern. Das konnte er, weil die Schuldenbremse durch die Notlagen Corona und Ukraine-Krieg in diesem Jahr ausgesetzt war. Das Geld sollte aber nicht nur 2022, sondern auch 2023 und 2024 genutzt werden. Daher rührt auch Habecks Befürchtung, dass auch der WSF wackelt.
Dass der WSF wackelt, könnte noch viel problematischer sein als die 60 fehlenden Klima-Milliarden aus dem KTF: Allein in diesem Jahr wurden nach Angaben aus dem Wirtschaftsministerium 67 Milliarden Euro an WSF-Krediten ausgezahlt. Rund 103 Milliarden hätten nach den Plänen des Finanzministeriums ins kommende Jahr übertragen werden sollen. Das lässt zwei große Fragen offen: Was passiert mit dem bereits ausgegebenen WSF-Geld und was ist mit dem WSF-Geld, das in Zukunft (jedenfalls erst einmal) nicht mehr ausgezahlt werden darf?
Müssen die Kunden die Hilfen dann zurückzahlen?
Dass in diesem Jahr gewährte Hilfen zurückgezahlt werden müssen, ist unwahrscheinlich. Denn Bundesregierung und Bundestag haben die Energiepreisbremsen beschlossen; wie sie sie finanzieren, ist ihr Problem. Es ist aber denkbar, dass die Bundesregierung die Strom- und Gaspreisbremsen nun vorzeitig streicht. Eigentlich sollten sie nämlich zur Absicherung auch im Frühjahr 2024 noch gelten, obwohl die Preise aktuell nicht so hoch sind. Sollten die Energiepreise nun im Winter erneut anziehen, könnten sie nicht mehr staatlich gebremst werden. "Dann werden wir höhere Gas- und Strompreise und Fernwärmepreise haben", warnte Habeck.
Steht nach der Anhörung am Dienstag fest, wie es weitergeht?
Die Stellungnahmen der Experten wurden am Montag bereits veröffentlicht. Die meisten von ihnen halten Auswirkungen auf das Sondervermögen für die Energiepreisbremsen für denkbar, doch sie äußern sich nicht eindeutig zu den Konsequenzen.
Umstritten ist unter den Experten, was mit dem Haushalt für 2024 passieren soll. Wirtschaftswissenschaftler Jens Südekum sieht den Kernhaushalt nicht betroffen. Er rät: Der Bundestag soll den Etat normal beschließen, auch weil bis Jahresende gar nicht alle offenen Fragen zum Urteil geklärt werden können. Im kommenden Jahr könne es dann einen Nachtragshaushalt geben.
Steuerrechtler Hanno Kube von der Universität Heidelberg dagegen rät scharf davon ab. "Der vorliegende Entwurf des Haushaltsgesetzes 2024 könnte verfassungswidrig sein", warnt er. Der BRH hält nicht nur den kommenden, sondern auch den Haushalt dieses Jahres wegen der schon ausgegebenen Energiepreisbremsen-Mittel "in verfassungsrechtlicher Hinsicht für äußerst problematisch".
Gilt das Urteil nur für die Sondervermögen im Bund?
In der Bundesregierung geht man davon aus, dass das Urteil auch auf die Haushalte der Länder anzuwenden ist. Auch in einigen Bundesländern gibt es schuldenfinanzierte Sondervermögen, die mit ähnlichen Mechanismen funktionieren wie im Bund. Sicher sind die Folgen jedoch auch hier noch nicht.
Zukunft der Schuldenbremse ungewiss
In die finanzpolitische Diskussion reihen sich nun auch wieder Stimmen ein, welche die Schuldenbremse als solche oder jedenfalls in der aktuellen Konstruktion kritisieren. Indes gehört sie zu den zentralen Wahlversprechen der FDP, in Teilen von Grüne und SPD ist sie hingegen umstritten. Die Schuldenbremse gibt dem Bund nur einen geringen Spielraum zur Aufnahme von Krediten. Ausnahmen sind bei Naturkatastrophen und in außergewöhnlichen Notsituationen zulässig, wie zuletzt wegen der Corona-Pandemie und des Kriegs in der Ukraine.
"Ich persönlich mache keinen Hehl daraus, dass ich die Art, wie die deutsche Schuldenbremse konstruiert ist, für zu wenig intelligent halte", sagte Habeck am Montagabend in den ARD-Tagesthemen. Sie sei "sehr statisch" und unterscheide nicht zwischen Geldern, die im Laufe des Jahres ausgegeben werden, und Investitionen in die Zukunft, die sich erst nach Jahren rechnen. Das scheine ihm wenig klug, sagte der Grünen-Politiker. Habeck verweist auch darauf, dass die Schuldenbremse während einer weltpolitisch gänzlich anderen Lage entstanden sei und sich die Voraussetzungen insbesondere in Bezug auf Russland, China und die USA verändert hätten.
In der Dienstagsausgabe der FAZ äußerte der Ökonom Lars P. Feld, der Finanzminister Lindner als "Persönlicher Beauftrager" in Wirtschaftsfragen berät und die Schuldenbremse 2007 mitentwickelt hatte, dass für den Rest der Wahlperiode nun "alle drei Koalitionspartner an ihren Lieblingsthemen Abstriche machen" müssten. Konkret nennt Feld für die SPD die Sozialpolitik, klima- und industriepolitische Subventionen seitens der Grünen und für die FDP Steuervergünstigungen. So könnten die Vorgaben der Schuldenbremse eingehalten werden, meint Feld. Eine Verbesserung der Finanzpolitik auf Bundesebene ergebe sich nicht durch eine Änderung der Schuldenbremse, sondern durch eine "Stärkung der privaten Investitionstätigkeit und der Innovation".
Derweil äußerte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich gegenüber dem Stern, das Aussetzen der Schuldenbremse sei jetzt notwendig: "Wir werden aus meiner Sicht nicht darum herumkommen, für 2024 die Ausnahmeregel zu ziehen – womöglich auch länger. Die Aufgaben, die vor uns stehen, sind ja nicht nächstes Jahr erledigt. Vor uns liegen gewaltige Herausforderungen, bei der Klimawende, der neuen Industriepolitik, aber auch außenpolitisch."
Doch selbst Habeck konstatiert, dass die Debatte um die Schuldenbremse in diesem Jahr trotzdem nicht weiter helfe. "Es gibt einen Koalitionsvertrag, der Koalitionspartner und auch die Opposition haben klar gemacht, dass sie meine Meinung und die von vielen anderen, von vielen Ökonomen nicht teilen. Insofern ist das eine für die Zukunft wahrscheinlich entscheidende, vielleicht eine ganz entscheidende Debatte. Für die Gegenwart werden wir das Geld anders finden müssen", so der Vizekanzler.
dpa/jb/LTO-Redaktion
Haushaltskrise nach BVerfG-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 21.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53223 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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