Die Weigerung des Senats, seinem Antrag zu folgen, sei "noch viel perfider, noch viel abgründiger, noch viel hinterhältiger" als der berüchtigte NS-Richter Roland Freisler, schrieb ein Anwalt. Keine strafbare Beleidigung, findet das OLG München
Roland Freisler gilt als Inbegriff des nicht bloß willigen, sondern lustvoll-drakonischen Vollstreckers des Unrechtsregimes des Dritten Reichs. Über 5.000 Todesurteile verhängte der Volksgerichtshof unter seiner Präsidentschaft, etwa die Hälfte davon wurde durch Freislers Senat ausgesprochen, darunter jene gegen die Geschwister Scholl und die Verschwörer des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944. Es ist daher wohl keine Überraschung, wenn die Mitglieder des 2. Strafsenats des Oberlandesgerichts (OLG) München sich wenig geschmeichelt fühlten, als sie 2015 in einer von einem Münchener Rechtsanwalt erhobenen Anhörungsrüge u.a. Folgendes zu lesen bekamen:
"Der Unterschied zwischen Ihnen und Roland Freisler liegt in Folgendem: Während Roland Freisler im Gerichtssaal schrie und tobte und überhaupt keinen Wert darauf legte, das von ihm begangene Unrecht in irgendeiner Weise zu verschleiern, gehen Sie den umgekehrten Weg: Sie haben sich ein Mäntelchen umgehängt, auf dem die Worte "Rechtsstaat" und "Legitimität" aufgenäht sind. Sie hüllen sich in einen Anschein von Pseudolegitimität, die Sie aber in Wahrheit in keiner Weise für sich beanspruchen können. Denn in Wahrheit begehen Sie – zumindest in diesem vorliegenden Justizskandal – genauso schlicht Unrecht, wie es auch Roland Freisler getan hat. So betrachtet ist das Unrecht, das Sie begehen noch viel perfider, noch viel abgründiger, noch viel hinterhältiger als das Unrecht, das ein Roland Freisler begangen hat: Bei Roland Freisler kommt das Unrecht sehr offen, sehr direkt, sehr unverblümt daher. Bei Ihnen hingegen kommt das Unrecht als unrechtmäßige Beanspruchung der Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie daher: Sie berufen sich auf die Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, handeln dem aber – zumindest in dem vorliegenden Justizskandal – zuwider."
Der Dienstvorgesetzte der Senatsmitglieder erstattete daraufhin Strafanzeige, die zu einer Verurteilung des Anwalts durch das Amtsgericht (AG) München zu 60 Tagessätzen wegen Beleidigung führte (v. 02.10.2015, Az. 842 Ds 235 Js 132863/15). Die Verurteilung wurde durch das Landgericht (LG) aufrechterhalten (v. 16.02.2016, Az. 22b Ns 235 Js 132863/15), anschließend jedoch durch das OLG zurückverwiesen (v. 11.07.2016, Az. 5 OLG 13 Ss 244/16) und sodann durch einen anderen Senat des LG erneut aufrechterhalten (v. 30.11.2016, Az. 24 Ns 235 Js 132863/15 (2)). Diese Entscheidung hat das OLG unlängst wiederum aufgehoben und den Anwalt gem. § 353 Abs. 1, 354 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) freigesprochen (v. 31.05.2017, Az. 5 OLG 13 Ss 81/17).
OLG: Richter müssen auch "überpointierte Kritik" beim "Kampf ums Recht" aushalten
Zur Begründung führt das OLG aus, dass der Tatbestand der Beleidigung, § 185 Strafgesetzbuch (StGB), zwar grundsätzlich erfüllt sei. Es handele sich aber nicht um einen Fall der Schmähkritik, weil die Kritik am sachlichen Vorgehen des Senats gegenüber der persönlichen Kritik nicht vollständig in den Hintergrund trete. Da der Anwalt den Vergleich mit Freisler im Kontext einer Anhörungsrüge in einem durch ihn selbst geführten Verfahren vornahm, sei sodann eine Rechtfertigung nach § 193 StGB zu prüfen (Wahrnehmung berechtigter Interessen). Hierbei müsse die Strafvorschrift des § 185 StGB "im Licht der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts (der Meinungsfreiheit, Anm. d. Red.) im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden."
Insoweit müsse das vom Bundesverfassungsgericht betonte Recht des Bürgers, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt auch mit drastischen Worten zu kritisieren, gegen die Ehrverletzung der Richter abgewogen werden, wobei Ersterem der Vorrang gebühre, wenn die verletzende Aussage Teil einer umfassenderen Meinungsäußerung ist und der Durchsetzung legitimer prozessualer Rechte dient. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass Richter "schon von Berufs wegen in der Lage und auch gehalten" seien, "überpointierte" Kritik an ihrer Arbeit beim "Kampf ums Recht" auszuhalten.
"Trotz gegenteiliger Formulierung" gar nicht persönlich gemeint?
Die Äußerungen des Anwalts seien "im Kern nur" der "Vorwurf sehr großen Unrechts und willkürlichen, rechtsbeugenden richterlichen Handelns ". Zudem sei der Vorwurf nicht gegen die Richter als Personen, sondern gegen den gesamten 2. Strafsenat gerichtet. Zu Gunsten des Anwalts sei außerdem zu berücksichtigen, dass er als mittelbar Betroffener gehandelt habe, weil er u.a. seine Tochter in dem Verfahren vertrat, und dass die Äußerung schriftlich erfolgte und lediglich den Verfahrensbeteiligten zuging. Unerheblich sei es, dass der Anwalt seine Kritik auch anders hätte formulieren können, und dass die Kritik in der Sache unzutreffend war.
Richter müssten bedenken, "dass ihre Entscheidungen für die Betroffenen häufig einschneidend sind und daher zu Reaktionen führen können, die sich trotz gegenteiliger Formulierungen letzten Endes gar nicht gegen ihre Person oder Ehre, sondern vielmehr gegen die getroffene Entscheidung selbst und die Rechtslage als solche richten." Umgekehrt dürfe der Freispruch aber "nicht als Billigung der Äußerung und Vorgehensweise des Angeklagten missverstanden werden".
Constantin Baron van Lijnden, Freispruch vor dem OLG München: . In: Legal Tribune Online, 16.06.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/23208 (abgerufen am: 16.11.2024 )
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