Ein Jahr ist das Urteil im NSU-Prozess nun her. Doch abgeschlossen ist der gesamte Komplex noch lange nicht, zumal der Mord an Walter Lübcke der Frage nach rechtsextremen Netzwerken in Deutschland wieder Aktualität verschafft hat.
Es war ein historisches Urteil: Vor einem Jahr, am 11. Juli 2018, verkündete das Oberlandesgericht München (OLG) nach mehr als fünf Jahren Prozessdauer sein Urteil gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte. Zschäpe, das einzige noch lebende Mitglied der Neonazi-Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), wurde wegen zehnfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Die anderen vier erhielten ebenfalls Haftstrafen. Aber: Das Urteil ist, mit einer Ausnahme, noch nicht rechtskräftig. Der Bundesgerichtshof (BGH) wird den Schuldspruch überprüfen müssen, das ist jetzt schon sicher.
Der NSU war 2011 aufgeflogen: Zschäpe hatte fast 14 Jahre lang mit ihren Freunden Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund gelebt. In dieser Zeit ermordeten die beiden Männer neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft sowie eine Polizistin. Zudem begingen sie zwei Sprengstoffanschläge mit vielen Verletzten und mehr als ein Dutzend Raubüberfälle. Am Ende nahmen sich Mundlos und Böhnhardt das Leben.
Zschäpe wurde als Mittäterin verurteilt, erhielt mit lebenslang und der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld die Höchststrafe - lediglich auf die Anordnung anschließender Sicherungsverwahrung verzichtete das Gericht. Ralf Wohlleben wurde als Waffenbeschaffer des NSU-Trios zu zehn Jahren Haft verurteilt - das Gericht sprach ihn der Beihilfe zum Mord in neun Fällen schuldig. Der Mitangeklagte Holger G. wurde wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren Haft verurteilt, Carsten S. wegen Beihilfe zum Mord in neun Fällen zu drei Jahren Jugendstrafe. Beim Mitangeklagten André E. blieb das Gericht mit zweieinhalb Jahren Haft wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung weit unter der Forderung der Anklage, die auf Beihilfe zum versuchten Mord plädiert hatte.
NSU-Ermittlungen gehen weiter
Zschäpe sitzt mittlerweile in der Justizvollzugsanstalt Chemnitz. Dorthin wurde sie von München-Stadelheim verlegt, weil sie eine "heimatnahe Unterbringung" beantragt hatte. Carsten S., der seine Revision zurückgezogen hat, hat seine Strafe bereits angetreten. Die anderen befinden sich auf freiem Fuß. Die Untersuchungshaft von E. hatte das Gericht mit dem Urteilsspruch beendet. Wohlleben wurde wenig später, nach mehr als sechs Jahren U-Haft, entlassen. Die Richter sahen keine Gefahr mehr, dass Wohlleben fliehen und somit dem weiteren Verfahren fernbleiben könnte. G. befand sich ohnehin auf freiem Fuß. All das könnte sich ändern, wenn das Urteil eines Tages rechtskräftig ist.
Nach wie vor liegt den Angaben von OLG-Sprecher Florian Gliwitzky die schriftliche Urteilsbegründung noch nicht vor. Wegen der Dauer des NSU-Prozesses hat das Gericht dafür fast zwei Jahre Zeit. Danach haben die Verfahrensbeteiligten, die Revision eingelegt haben, einen Monat Zeit für die Revisionsbegründung, bevor der Fall nach Karlsruhe zum BGH geht.
Nach Angaben eines Sprechers der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe sind die NSU-Ermittlungen nach wie vor nicht abgeschlossen, sondern laufen unverändert weiter: Zum einen gegen neun namentlich bekannte mutmaßliche Helfer oder Mittäter, zum anderen gegen "unbekannt". Dabei geht es unter anderem um die Beschaffung von Waffen, Geld und Unterschlupf sowie eventuelle Hilfestellung beim Ausspähen von Tatorten. Im Visier stehen vor allem Frauen und Männer aus dem Chemnitzer NSU-Umfeld und aus Jena.
Vieles liegt im Dunkeln
Alle Fragen hat der NSU-Prozess nicht beantworten können, vieles ist offen geblieben. Vor allem: Warum mussten genau jene neun Männer und die deutsche Polizistin sterben? Gehörten doch noch mehr Leute zum NSU als Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe? Gab es nicht mindestens weitere Mitwisser oder Unterstützer irgendwo im Land? Woher hatten die Terroristen die Adressen von rund 10.000 potenziellen Anschlagszielen?
Gerade die vergangenen Wochen haben gezeigt, dass noch vieles im Dunkeln liegt. Medienberichten zufolge stand der ermordete Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke auf dieser Liste, als Tatverdächtiger sitzt ein Rechtsextremist in Untersuchungshaft. Der Mord hat der Frage nach rechtsextremen Netzwerken in Deutschland eine neue, unheimliche Aktualität gegeben.
Von Rechtsterroristen wie denen des NSU geht nach Ansicht des Landtagsabgeordneten Peter Ritter (Linke) weiter eine große Gefahr für viele Menschen und die Demokratie aus. "Ein Jahr nach der Urteilsverkündung im Münchener NSU-Prozess zeigt sich die militante Neonazi-Szene ungebrochen selbstbewusst", warnte Ritter am Donnerstag anlässlich des ersten Jahrestages der Urteilsverkündung.
Kein Trio, sondern Netzwerk?
Von überwiegend milden Urteilen im NSU-Prozess gehe das Signal an die Szene aus: "Selbst bei schwersten Straftaten habt ihr nur wenig zu befürchten", sagte Ritter. Das Münchener Oberlandesgericht habe nicht erkennen wollen, dass der NSU kein Trio, sondern ein Netzwerk sei. Wie verheerend dieses Vorgehen sei, zeige sich bei der Ermordung von Walter Lübcke. "Der mutmaßliche Täter entstammt exakt jenen Kreisen, die auch im Münchner NSU-Prozess verstärkt eine Rolle hätten spielen müssen." Doch die Relevanz militanter Netzwerke sei verleugnet und aus dem Prozess rausgehalten worden.
Auch die Grünen fordern eine weitere Aufklärung über rechtsradikale terroristische Strukturen in Deutschland. "Bis heute sind zahlreiche Fragen rund um die rechtsterroristische Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds, seiner Mitglieder und Unterstützer noch immer ungeklärt", sagte Bundestags-Fraktionsvize Konstantin von Notz der Deutschen Presse-Agentur. Der Staat stehe in der Pflicht, dem aller Entschiedenheit weiter nachzugehen - auch mit Blick auf den Mord an Lübcke.
Kontinuitäten und Verbindungen des NSU zu "offenbar weiterhin bestehenden rechtsterroristischen Strukturen" müssten entschlossen aufgedeckt werden, forderte von Notz. Auch was die Rolle von V-Leuten im NSU-Umfeld angeht, sieht er noch Klärungsbedarf. Der NSU-Prozess habe daran gekrankt, dass man sich auf die These eines "allein mordenden Terror-Trios Zschäpe, Mundlos und Bönhardt" konzentriert habe, die aus heutiger Sicht umso fragwürdiger sei.
dpa/acr/LTO-Redaktion
Ein Jahr nach dem NSU-Urteil: . In: Legal Tribune Online, 11.07.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36441 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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