Israel muss den Einsatz in Rafah stoppen, so der IGH auf einen Eilantrag Südafrikas. Israel habe nicht darlegen können, die Hunderttausenden Evakuierten hinreichend zu versorgen. Einige Experten verstehen die Anordnung aber zurückhaltender.
Am 7. Mai begann Israel seine militärische Operation in Rafah, um verbliebene Hamas-Stellungen zu zerstören. Insgesamt 800.000 Menschen sind nach UN-Angaben seitdem aus der Grenzstadt geflohen. Während Israel in der Stadt weiter vordringt, traf der Internationale Gerichtshof (IGH) am Freitag eine bedeutsame Anordnung: Die Militäroperation in Rafah ist sofort einzustellen, ebenso wie "alle weiteren Kriegshandlungen in Rafah, die geeignet sind, die Gruppe der Palästinenser in Gaza in eine humanitäre Lage zu bringen, die sie ganz oder teilweise auslöschen könnte".
Ferner wird Israel angehalten, den Grenzübergang in Rafah für die Lieferung von Hilfsgütern offenzuhalten sowie effektive Maßnahmen zu ergreifen, um UN-mandatierten Ermittlern ungehinderten Zugang zum Kriegsgebiet zu gewähren, damit diese Beweise für einen möglichen Völkermord sammeln können.
Damit entsprach der IGH überwiegend den am 10. Mai gestellten Anträgen Südafrikas. Dem in der Anhörung am 16. Mai erweiterten Antrag, den Militäreinsatz im gesamten Gazastreifen zu stoppen, lehnte das Gericht ab. Mit dem Relativsatz hinter dem zweiten Komma in Ziffer 57 Anordnung 2 Buchst. a ("die geeignet sind...", auf Englisch: "which may inflict...") nimmt das Gericht Bezug auf die Voraussetzungen der Völkermord-Konvention, nach dessen Art. II jede genozidale Handlung die Absicht voraussetzt, eine Volksgruppe "als solche ganz oder teilweise zu zerstören".
Der Streit um das Komma
Da einige Richter – wie der Deutsche Georg Nolte – eine solche Absicht aktuell nicht erkennen können, ist unter Experten streitig, ob der einschränkende Nebensatz sich nur auf den Auffangtatbestand der "anderen Handlungen" ("and any other action") bezieht oder auch auf die bereits begonnene Militäroffensive ("its military offensive"). Im zweiteren Fall hätte der IGH keinen Stopp der Militäroffensive angeordnet, sondern – wie in seinen Anordnungen zuvor – vor allem die ohnehin geltende Rechtslage wiederholt. Für diese Lesart spricht laut Stefan Talmon vor allem, dass Nolte und sein rumänischer Kollege Bogdan Aurescu in gesonderten Erklärungen zum Ausdruck gebracht haben, die Passage so zu verstehen.
Dagegen spricht, worauf Mike Becker hinweist, dass der IGH in der Begründung seiner Anordnung an verschiedenen Stellen deutlich macht, dass er die Militäroffensive mitsamt Evakuierung als solche kritisiert und auf die dadurch verursachten Schäden und Gefahren hinweist. Was den Wortlaut angeht, wird vor allem über das Komma vor dem Relativpronomen "which" gestritten, das im Englischen für eine inhaltliche Einschränkung spricht. Adil Haque betont auf dem Blog Just Security dagegen, dass eine Auslegung des "which" als Einschränkung den Inhalt unzulässig umdeuten würde – in ein "soweit" ("to the extent that"). Hierfür liefere der Rest des Entscheidungstextes keine Anhaltspunkte.
Juliette McIntyre hält die Unklarheit im Verfassungsblog für bewusst gewählt, der IGH habe sicherstellen wollen, eine starke Mehrheit für die umstrittene Anordnung zu finden – auch von solchern Richtern, die wie Nolte an Israels Genozidabsicht zweifeln. Letztlich stimmten 13 der 15 Richter dafür, inklusive Nolte und Aurescu.
Maßgeblich für die Entscheidung ist laut der Entscheidungsbegründung, dass sich die Lage in Gaza seit den letzten Eilentscheidungen des IGH in dem laufenden Völkermord-Verfahren zwischen Südafrika und Israel kontinuierlich verschlechtert habe. Als "desaströs" bezeichnete der libanesische IGH-Präsident Nawaf Salam die aktuelle humanitäre Situation im Gazastreifen. Die Veränderung der humanitären Lage rechtfertige den Erlass weiterer Sofortmaßnahmen nach Art. 75, 76 der IGH-Gerichtsordnung.
Schon die dritte Anordnung
Demnach darf der IGH zuvor getroffene Eilentscheidungen zurücknehmen oder abändern, wenn eine "Änderung der Situation" es notwendig macht. Diese Voraussetzungen sind nach Auffassung der Haager Richter gegeben.
Bei diesem Antrag handelt es sich um den insgesamt vierten Eilantrag in einem Ende Dezember 2023 angestoßenen Verfahren von Südafrika gegen Israel. In der Hauptsache lautet der Vorwurf gegen die Netanjahu-Regierung, das Land verstoße mit seiner Kriegsführung in Gaza gegen die Völkermord-Konvention. In diesem Verfahren hatte es bereits drei Eilentscheidungen des IGH gegeben, in zwei Fällen gab das Gericht den Anträgen Südafrikas teilweise statt, griff aber nicht ins Kriegsgeschehen ein. In einem Fall lehnte es den Antrag ab.
Mit seinen Entscheidungen vom 26. Januar und 28. März hatten die Richter in Den Haag Israel vielmehr nur aufgefordert, seine Verpflichtungen aus der Konvention einzuhalten. Außerdem hatten sie dem Staat aufgegeben, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und mehr Grenzübergänge für längere Zeiträume zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen.
Südafrika stützte seinen neuerlichen Folgeantrag auf das Argument, die Maßnahmen, die der IGH bisher angeordnet hat, seien angesichts der veränderten Umstände in Gaza nicht ausreichend. Die Lage für die palästinensische Zivilbevölkerung in Gaza habe sich immer weiter verschlechtert. Maßgeblich dafür war die lange angekündigte und am 7. Mai schließlich begonnene israelische Offensive in Rafah.
800.000 Menschen aus Ost-Rafah evakuiert
Das Gericht betonte, dass die humanitäre Lage im Gazastreifen bereits zum Zeitpunkt der ersten Eilentscheidung am 26. Januar "katastrophal" gewesen sei und das Gericht schon hier auf das gravierende Risiko einer Verschlechterung der Lage hingewiesen habe. Dieses Risiko habe sich im Nachgang realisiert, was die erneute Entscheidung am 28. März nach sich zog. Nun habe sich die Situation "noch weiter verschlechtert".
Dabei stellt der IGH insbesondere auf die Sitation der aus Rafah evakuierten Zivilisten ab. Am 6. Mai, einen Tag vor Beginn der Militäroffensive, hatte Israel 100.000 Bewohner von Rafah aufgefordert, sich in ein dafür errichtetes Notlager in dem Dorf Al-Mawasi in der Nähe der Stadt Khan Younis zu begeben. Nach UN-Angaben sind bis zum 18. Mai insgesamt 800.000 Menschen geflohen.
Was die Lage dort angeht, so bezieht sich der IGH auf die Einschätzung des Generalkommissar des Palästinenserhilfswerks UNRWA. Dieser hatte darauf hingewiesen, dass Al-Mawasi in einem wüstenähnlichen Landstrich liege, ohne Straßen und Gebäude. "Es mangelt an den Minimalvoraussetzungen, um humanitäre Notunterstützung in einer sicheren und menschenwürdigen Art zu leisten", zitiert das Gericht Philippe Lazzarini.
Hieraus ergibt sich nach Auffassung der Richter ein erhebliches Risiko für die unter der Völkermord-Konvention geschützten Rechte der Palästinenser in Rafah. Dass Israel hinreichende Maßnahmen ergreift, um dieses Risiko abzuwenden und die evakuierten Menschen mit ausreichend Nahrung und Unterkünften zu versorgen, sei nicht ersichtlich. Die von Israel übermittelten Informationen genügten den Richtern dafür nicht. In der Anhörung hatte Israel vor allem die Legitimität des Verfahrens beanstandet und Südafrika einen zynischen Missbrauch des Völkerrechts vorgeworfen; LTO hatte berichtet.
Wird Israel reagieren?
Dies Entwicklungen seien so schwerwiegend, dass eine "Veränderung der Lage" i.S.v. Art. 76 der Gerichtsordnung vorliege. Vergleichsmaßstab war die Situation zum Zeitpunkt der letzten Eilentscheidung zum Gaza-Krieg am 28. März.
Das Hamas-Politbüro ließ verlauten, die Entscheidung zu begrüßen. In Israel hingegen wird man die Entscheidung mit Frust zur Kenntnis nehmen. Dass Netanjahus Kriegskabinett einen Stopp der Operation in Rafah anordnet, ist unwahrscheinlich. Der israelische Regierungssprecher Avi Hyman hatte am Donnerstag auf die Frage, was Israel machen werde, falls das Gericht einen Stopp des Militäreinsatzes im Gazastreifen anordnen sollte, geantwortet: "Keine Macht der Welt wird Israel daran hindern, seine Bürger zu schützen, und gegen die Hamas in Gaza vorzugehen." Man halte an dem erklärten Kriegsziel fest, die Hamas zu zerstören. "Wir können kein Regime an unserer südlichen Grenze dulden, das Völkermord anstrebt."
Entscheidungen des IGH sind bindend. Allerdings besitzt das Gericht keine rechtlichen Möglichkeiten, einen Staat zur Umsetzung der Maßnahmen zu zwingen. Die Richter können nur den UN-Sicherheitsrat aufrufen, in der Sache tätig zu werden. Dass dieser Israel unter Androhung von Sanktionen zur Einhaltung der IGH-Entscheidung zwingt, gilt angesichts des Vetorechts der US-Regierung als unwahrscheinlich.
Hinweis: Der Artikel wurde im Hinblick auf die umstrittene Deutung der Anordnung am 27.05.2024 ergänzt.
Weitere Anordnung zum Gaza-Krieg: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54623 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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