Die östereichischen Gerichte hätten sich nie mit einem wesentlichen Teil der Vorwürfe eines KZ-Überlebenden beschäftigt, der sich durch einen rechten Zeitschriftenbeitrag diffamiert sah. Das entschied der EGMR am Donnerstag.
Die österreichische Justiz hat sich unzureichend mit den Vorwürfen eines Holocaust-Überlebenden beschäftigt, der sich durch eine rechtsgerichtete Zeitung diffamiert sah. Das hat am Donnerstag der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden (Beschw.-Nr.: 4782/18). Die Richter sprachen dem Mann deshalb eine Entschädigung von rund 5.600 Euro zu.
Die Gerichte in Österreich hätten sich nie mit einem wesentlichen Teil der Vorwürfe beschäftigt, so die mit sieben Richtern besetzte Kammer des Straßburger Gerichts. Sie sahen deshalb einen Verstoß gegen Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die das Recht auf Achtung des Privatlebens schützt.
Rechter Zeitschriftenartikel: KZ-Überlebende seien "Massenmörder" und "Kriminelle"
Der Beschwerdeführer, Aba Lewit, ist ein österreichischer Staatsbürger, der 1923 geboren wurde und in Wien lebt. Er ist einer der letzten Holocaust-Überlebenden.
Im Sommer 2015 war in der Zeitschrift Aula ein Artikel veröffentlicht worden, in welcher Befreite aus dem Konzentrationslager Mauthausen als "Massenmörder", "Kriminelle" und "Landplage" bezeichnet worden waren. Daraufhin war ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Autor des Artikels geführt worden, welches jedoch in Folge eingestellt wurde.
In der Februar-2016-Ausgabe der Aula berichtete derselbe Autor über die Einstellung des Strafverfahrens und wiederholte die fraglichen Aussagen wortwörtlich. Daraufhin brachte Lewit gemeinsam mit neun anderen Überlebenden, die alle in Konzentrationslagern inhaftiert und 1945 befreit worden waren, wegen dieses Artikels einen Antrag nach Mediengesetz gegen die Zeitschrift Aula sowie den Autor ein.
Die Antragsteller brachten vor, dass die Delikte der üblen Nachrede sowie Beleidigung durch die Publikation aus dem Jahr 2016 verwirklicht worden seien, auch wenn sie darin nicht namentlich genannt waren. Sie seien alle Opfer des nationalsozialistischen Regimes, aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Einstellung oder ihres Glaubens in Mauthausen inhaftiert und nach Kriegsende befreit worden. Keiner von ihnen hatte jemals Straftaten begangen.
Das Landesgericht für Strafsachen Graz wies den Antrag mit der Begründung ab, dass das Kollektiv der Mauthausen-Befreiten, das 1945 bis zu 20.000 Personen umfasste, zu groß gewesen sei, als dass jedes einzelne Mitglied in den inkriminierten Aussagen persönlich erkennbar wäre. Der Antragsteller sei daher nicht antragslegitimiert gewesen. Darüber hinaus enthalte der Artikel keine eigenständigen, vom Erstartikel aus 2015 zu unterscheidenden, ehrenbeleidigenden Aussagen.
In ihrer Berufung brachten die Antragsteller vor, sie seien sehr wohl persönlich erkennbar gewesen, weil erstens das Kollektiv der Mauthausen-Befreiten inzwischen nur mehr aus wenigen noch Überlebenden bestehe und sie zweitens der breiten Öffentlichkeit durch ihre Aktivitäten als Holocaust-Überlebende persönlich bekannt seien. Das Oberlandesgericht Graz wies die Berufung ab, ohne auf die Fragen der Größe des Kollektivs und der Antragslegitimation einzugehen. Es bestätigte die Ansicht des Erstgerichts, dass die gegenständlichen Behauptungen keinen eigenständigen Bedeutungsinhalt im Vergleich zu jenen aus 2015 gehabt hätten.
EGMR: Gerichte haben sich niemals mit Kern des Vorwurfs beschäftigt
Die Kammer des EGMR unter Beteiligung der deutschen Präsidentin Angelika Nußberger stellte klar die Zulässigkeit der Beschwerde fest. Lewit und die anderen ehemaligen Insassen des Konzentrationslagers Mauthausen bildeten als Überlebende des Holocaust eine soziale Gruppe. Gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofes könne das Recht auf Privatleben jedes einzelnen Mitgliedes einer solchen Gruppe durch negative Stereotypisierung oder Diffamierung beeinträchtigt sein.
Zur Begründetheit der Beschwerde verwiesen die Richter auf die ständige EGMR-Rechtsprechung, wonach gemäß Art. 8 EMRK eine Abwägung zwischen den widerstreitenden individuellen und öffentlichen Interessen durchzuführen sei. Die innerstaatlichen Gerichte seien jedoch im Fall des Beschwerdeführers gar nicht dazu gekommen, eine solche Interessenabwägung durchzuführen, heißt es in einer Mitteilung des Gerichts.
Das erstinstanzliche Gericht habe vor dem Hintergrund ständiger Rechtsprechung befunden, die Größe des Kollektivs der Mauthausen-Befreiten sei zu groß gewesen, als dass Herr Lewit im fraglichen Artikel persönlich erkennbar gewesen sei soll, weshalb ihm die Antragsberechtigung fehlen solle. Diese Feststellung habe aber außer Acht gelassen, dass sich die Gerichte bisher nicht mit der im vorliegenden Fall maßgeblichen Frage der Auswirkung einer Äußerung auf ein Kollektiv, dessen Mitgliederzahl sich im Laufe der Zeit beträchtlich vermindert hatte, beschäftigt hatten.
Das Berufungsgericht habe die Frage der Antragsberechtigung des Beschwerdeführers überhaupt nicht aufgegriffen, obwohl der Beschwerdeführer diesbezüglich ausführliche Argumente vorgetragen hatte, heißt es in der Mitteilung des EGMR.
Im Ergebnis folgerte der Gerichtshof, dass sich die innerstaatlichen Gerichte niemals mit dem Kern des Vorbringens des Beschwerdeführers beschäftigt hatten. Weder hätten sie sich umfassend mit der Frage der Antragsberechtigung noch mit der der Frage des eigenständigen Bedeutungsgehaltes der Aussagen auseinandergesetzt.
Der Gerichtshof setzte fest, dass die Republik Österreich dem Beschwerdeführer 648,48 Euro im Hinblick auf den erlittenen materiellen Schaden sowie 5.000 Euro zum Ausgleich des immateriellen Schadens und 6.832,85 Euro an Prozesskosten und Auslagen zu ersetzen habe.
Markus Sehl, EGMR verurteilt Österreich: . In: Legal Tribune Online, 11.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38111 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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