Gespräch mit Verfassungsrichter Henning Radtke: "Auch in der Krise gelten alle Rechte"

Interview von Dr. Max Kolter

21.09.2024

Klimawandel, Krieg und diplomatische Krisen sind Bewährungsproben für das Recht: Ruft man Notlagen aus, um lästige Regeln auszuhebeln? Muss die Politik auch mal machen dürfen? Henning Radtke vertraut auf die Normenhierarchie.

LTO: Herr Professor Radtke, Sie sind nicht nur seit 2018 Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), sondern auch passionierter Strafrechtler und Präsident des 74. Deutschen Juristentages (DJT). Dort wird es kommende Woche in Stuttgart viel um die Krisen unserer Zeit gehen: Klimawandel, Fake News, Kriege. Kommen wir aktuell gar nicht aus den Krisen raus oder hat sich nur die Wahrnehmung verändert? Ist heute genauso viel Krise wie früher?

Prof. Dr. Henning Radtke: Das ist in der Retrospektive schwer zu sagen: Jeder neigt dazu, die jeweilige Zeit als besonders krisenhaft wahrzunehmen und frühere Krisen aus der Vergangenheit als weniger gravierend. Aber in der Tendenz nehmen die Herausforderungen sicherlich zu. Wir haben gerade in den letzten Tagen gesehen: verheerende Hochwasser in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas; mit einer Heftigkeit, die auch früher schon zu beobachten war, aber wohl nicht in der Häufigkeit.

Auch Falschinformationen, etwa im Rahmen von Kriegspropaganda, sind ein Problem, das zwar im Prinzip nicht neu ist, aber eben doch eine ganz neue Qualität hat. Wenn wir sehen, wie Russland mit Desinformationskampagnen gezielt versucht, Ängste zu schüren, dann ist es schwer – ja vielleicht krisenhaft – geworden, zu unterscheiden: Was ist wahr, was ist gelogen? Damit umzugehen, das ist für einen demokratischen Rechtsstaat doch eine wirklich große Herausforderung. 

Und das soll der 74. DJT lösen?

Wir wollen dort versuchen, mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, in kleinen Teilbereichen Anregungen zu geben, um durch die Gestaltung des Rechts aktuellen Herausforderungen zu begegnen. Ein Mittel des Juristentages ist, auf der Grundlage von Gutachten, vorbereiteter Diskussionen und Beschlüsse rationale Rechtspolitik zu erleichtern. Dass das nur kleine Beiträge sein können, ist selbstverständlich.

"Das ist der Markenkern des demokratischen Rechtsstaats"

Kann denn das Recht die Krisen überhaupt einfangen? Sind Klimawandel und Kriege nicht eine Nummer zu groß? Führen die Krisen nicht vielleicht auch das Recht in die Krise?

Das Verhältnis von Recht und Krise ist sicherlich nicht nur eindimensional: Das Recht begegnet den Krisen schon. Natürlich stellen sich dabei wieder neue rechtliche Herausforderungen. Denen müssen wir uns als Rechtswissenschaftler und -praktiker dann stellen.

Also rechtfertigt eine Krise nicht, sich vom Recht abzuwenden?

Nein. Wir müssen uns klarmachen, dass in einem liberalen demokratischen Rechtsstaat das Recht in der Krise uneingeschränkt gilt. Das ist eine zentrale Aussage, die mir ganz wichtig ist: Krise ist Krise, aber sie ist kein Notstand, der rechtsstaatliche Garantien wie Freiheitsrechte freigibt. Im Gegenteil: Auch in der Krise gelten alle Rechte. Das ist der Markenkern des demokratischen Rechtsstaats.

Ist es dann okay, unter Hinweis auf eine sogenannte, nicht näher definierte Migrationskrise eine Notlage auszurufen und Rechtsakte der Europäischen Union auszuhebeln?

Das ist etwas, zu dem ich mich als Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht äußern kann.

"Dann darf man dort keine Bebauung zulassen"

Beim DJT geht es, wie Sie sagen, vor allem um Krisenbewältigung. 

Auch. Es geht aber vor allem auch um Prävention. Oft fängt man erst an, über die Folgenbeseitigung nachzudenken, wenn die Katastrophe schon eingetreten ist, wenn das Ahrtal in den Fluten untergegangen ist. Wir versuchen, vorher anzusetzen.

Kann denn das Recht etwas gegen eine Flutwelle tun, die im Ahrtal Menschen und Häuser, Schlamm und Bäume mitreißt?

Nein, das nicht. Aber wir können ein rechtliches Instrumentarium vor der Krise entwickeln, das dann hilft, die Krisenfolgen nachher leichter zu bewältigen. Ist es nicht ein interessanter Versuch zu überlegen: Ist nicht die Folgenbewältigung, insbesondere nach Naturkatastrophen, immer relativ gleichmäßig? Kann man nicht schauen: Was ist denn geboten, welche finanzielle Unterstützung ist nötig? Wer ist dafür zuständig? Welche Versicherungen muss es geben?

Auch planungsrechtlich kann man anknüpfen. Denn es lassen sich ja Gebiete identifizieren, die etwa von Hochwasser stärker betroffen sind. Hier kann ich doch schauen: Welche Ansiedlung lasse ich dort zu? Dann muss man eben manche Gebiete umdefinieren und darf dort keine Bebauung zulassen, um zu verhindern, dass Menschenleben und Eigentum in Gefahr geraten.

Diese Maßnahmen sind aber immer noch solche der – sagen wir: antizipierten – Krisenbewältigung. Was ist mit echter Prävention im Bereich des Klimaschutzes? Es muss ja Ziel sein, dass sich Naturkatastrophen nicht immer weiter häufen und die Kipppunkte überschritten werden. Kann das Recht dem etwas entgegensetzen?

Das tut es ja. Das Pariser Klimaabkommen setzt das Ziel fest, die Erderwärmung nicht zu sehr ansteigen zu lassen, sondern auf möglichst 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Und da sind sich die Vertragsstaaten einig, dass dieses Ziel nur zu erreichen ist, wenn alle auf der jeweiligen nationalen Ebene das Nötige tun.

Zum Klimabeschluss: "Wir haben uns ja nicht zu Klimaschützern aufgeschwungen"

Seit 2018 Verfassungsrichter. Foto: picture alliance/dpa | Uli Deck

Aber das geschieht nicht ausreichend.

Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich einzelne Staaten daran halten würden. Der Effekt, von dem ich sicher überzeugt bin, ist: Wenn man als Vertragsstaat, wie etwa die Bundesrepublik Deutschland, klarmacht, wir halten das Abkommen ein, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch andere Staaten so reagieren.

Sie waren 2021 auch beim Klimabeschluss des Ersten Senats dabei. Der basiert gerade darauf, dass Deutschland in seinem Klimaschutzgesetz nicht genug getan hat, jedenfalls nicht in der Zeit vor 2030 für die Zeit danach. Wie gehen wir damit um, wenn sich der Staat nicht an die Vorgaben hält?

Der Beschluss zeigt gerade, dass das Recht funktioniert. Es gehört eben zu den Mitteln eines Rechtsstaats, dass man seinen eigenen Staat mit den Mitteln des Rechts – hier mit einer Verfassungsbeschwerde – im Einzelfall dazu anhalten kann, dass er die völkerrechtlichen Pflichten auch einhält. Wir haben uns ja nicht zu Klimaschützern aufgeschwungen, sondern die völkerrechtlichen Pflichten zugrunde gelegt und dann anhand des deutschen Klimaschutzgesetzes unter anderem gefordert: Ausgehend von einem zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels begrenzten CO2-Budgets muss bei Klimaschutzmaßnahmen bedacht werden, dass damit einhergehende Eingriffe in Freiheitsrechte über die Jahre so verteilt werden, dass diese zukünftigen Generationen nicht übermäßig treffen werden. Dass man in Deutschland im Einzelfall gerichtlich einfordern kann, dass völkerrechtliche Pflichten eingehalten werden, gibt mir ein gutes Gefühl.

Aber das kann ja nicht jeder. Die Verfassungsbeschwerden wurden von Jugendlichen erhoben, Ihr Senat argumentierte mit Generationengerechtigkeit. Dabei sind wir alle von Hitze und Hochwasser betroffen. Die klimawandelbedingte Migration ins noch relativ kühle Deutschland trifft auch alle gleich.

Das stimmt, in der Katastrophe sind wir alle gleich betroffen, von langfristigen Klimaschutzmaßnahmen aber nicht. Beim Klimabeschluss ging es konkret um CO2-Budgets nach dem Klimaschutzgesetz. Wenn aktuell zu viel CO2 emittiert wird, besteht die Gefahr, dass künftige Generationen dann wegen des kleiner gewordenen Budgets von zukünftigen Klimaschutzmaßnahmen stärker betroffen sein werden.

Übergesetzlicher Notstand für Klimaproteste?

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat nun aber umgekehrt einer Klimaklage von Seniorinnen stattgegeben. Das Argument: Sie sind gesundheitlich besonders von Hitze betroffen. Wäre so etwas auch als Verfassungsbeschwerde denkbar?

Darüber möchte ich nicht spekulieren. Das könnte eine Konstellation sein, mit der ich als Verfassungsrichter noch befasst sein werde.

Der Gedanke des EGMR ist aber doch einleuchtend. Er betrifft aber eine andere Ebene als der Klimabeschluss: Es geht vor allem um Anpassungsmaßnahmen.

Nun dauern solche Klagen sehr lang. Einigen jungen Menschen reicht das nicht. Sie kleben sich auf die Straße. Das wird überwiegend als strafbare Nötigung angesehen. Die Versammlungsfreiheit führt hier nicht per se zur einer anderen Bewertung. Braucht es dann doch einen übergesetzlichen Notstand, um Krisenbewältigung zu betreiben?

Das müssen in erster Linie die Strafgerichte entscheiden. Wenn es dann zu Verurteilungen wegen des Festklebens auf der Autobahn kommt, kann die betroffene Person den Instanzenzug beschreiten und gegebenenfalls auch Verfassungsbeschwerde erheben. Das BVerfG muss dann die betroffenen Freiheitsrechte abwägen. Der demokratische Rechtsstaat bietet also Möglichkeiten, die Grenzen des legitimen Protests auszuloten. Was das Ergebnis der Prüfung ist, dazu kann ich mich nicht verhalten.

Sie vertrauen also in die Normenhierarchie und das Gesamtgebilde des Rechts.

Exakt.

"Die Situation ist im Vergleich zu den 90ern eine andere"

Vor über zehn Jahren annektierte Russland illegal die Krim, seit Februar 2022 führt Putin einen brutalen Angriffskrieg in der Ostukraine. Der Internationale Gerichtshof (IGH) entschied noch im März 2022, dass Russland die Kriegshandlungen sofort einstellen muss. Geschehen ist nichts – die russische Delegation war nicht einmal zur Verhandlung aufgetaucht. Auch Israels Premier Netanjahu setzt die Anordnungen des IGH im Verfahren Südafrika/Israel bislang nicht wirklich um, sondern kritisiert das Gericht. Erlebt nicht zumindest das Völkerrecht eine Geltungskrise?

Die Situation ist im Vergleich zu den 90er Jahren sicherlich eine andere. Das liegt aber an der weltpolitischen Lage – es herrscht nicht mehr das gleiche offene Klima einer Überwindung der Gegensätze zwischen zwei Blöcken. Das Recht selbst hingegen hat sich nicht verändert. Die Durchsetzung ist aber erschwert.

Wie sieht es im Völkerstrafrecht aus?

Ich teile nicht den Pessimismus, es sei in der absoluten Krise. Das Völkerstrafrecht lebt nach wie vor: Es hält grundsätzlich die erforderlichen Instrumente bereit. So ist völkerrechtlich definiert, was in einem Krieg erlaubt ist und was nicht, und dass dafür auch Einzelpersonen strafrechtlich verantwortlich sind. Es gibt das Instrument des Haftbefehls vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), den das Gericht gegen Wladimir Putin auch erlassen hat. Der verpflichtet dann die Vertragsstaaten des IStGH-Statuts dazu, ihn festzunehmen. Ob das dann wirklich umgesetzt wird, steht aber natürlich auf einem anderen Blatt. Das hat Putins folgenloser Staatsbesuch in der Mongolei Anfang September gezeigt.

"Kontrollmöglichkeiten der Exekutive kaum irgendwo so gut ausgebaut wie bei uns"

Wenn man nun doch den Eindruck bekommen kann, dass die Diplomatie die Deutungshoheit über das Völkerrecht gewinnt, besteht im Inland eigentlich kein Zweifel daran, dass alle Staatsgewalt Recht und Gesetz unterliegt. Vor diesem Hintergrund irritiert der große Gefangenenaustausch, in dessen Zuge der rechtskräftig verurteilte "Tiergartenmörder" freikam. Haben Sie dabei als Mensch und Bürger ein Störgefühl?

Das ist ein Thema, zu dem ich mich nicht äußern kann. Als Angehöriger eines Verfassungsorgans steht es mir nicht zu, das Handeln eines anderen Verfassungsorgans außerhalb von Verfahren vor Gericht zu bewerten.

Ich versuche es mal abstrakter. Unterstellen wir, dass die Begründung der Bundesregierung für diesen Austausch überzeugt. Sehen Sie dann dennoch ein Problem darin, dass die Entscheidung auf einer Rechtsgrundlage getroffen wird, die die diplomatischen Abwägungskriterien gar nicht nennt und die auch eine ganz andere Situation im Blick hat?

Ich glaube, es gibt kaum einen anderen Staat auf der Welt, in dem es so wenige gerichtsfreie Räume für die Exekutive gibt wie bei uns. Das Ausmaß der Kontrollmöglichkeiten auch in Bezug auf exekutives Handeln ist kaum irgendwo so gut ausgebaut wie bei uns. Das stelle ich im Gespräch mit ausländischen Kollegen immer fest. Insofern scheint es mir erst mal kein Problem zu sein, dass wir ganz, ganz wenige Bereiche haben, die keiner unmittelbaren gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

Noch eine Bemerkung als Strafrechtler: Die Bestrafung eines Täters dient jedenfalls auch dem Schuldausgleich. Dahinter steckt immer noch der Gedanke der Sühne. Wird eine als schuldangemessen betrachtete Strafe frühzeitig nicht mehr vollstreckt, dann ist das an sich begründungsbedürftig. Dafür mag es gute Gründe geben, aber es ist begründungsbedürftig, wenn es sich nicht um eine Gnadenentscheidung handelt.

Eine Frage noch zum Abschluss: Auf welche Veranstaltungen freuen Sie sich beim DJT am meisten?

Ich freue mich wirklich sehr auf die Eröffnungsveranstaltung und bin sehr gespannt auf die Rede des BVerfG-Präsidenten Stephan Harbarth. Ich freue mich auch auf das Schluss-Panel zu den Herausforderungen des Ukraine-Krieges. Als Strafrechtler schlägt mein Herz natürlich auch für die Diskussion über Möglichkeiten, Durchsuchung und Beschlagnahme von Smartphones und Laptops neu zu regeln. Die großen Krisen, wie wir sie zu Beginn des Gesprächs thematisiert haben, werden aber im Öffentlichen Recht besprochen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. Henning Radtke ist seit 2018 Richter des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Er war Inhaber eines Lehrstuhls für Strafrecht an den Universitäten des Saarlandes, Marburg und Hannover. Seit 2022 ist er Vorsitzender der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages und ist Präsident des 74. djt, der vom 25. bis 27. September 2024 in Stuttgart stattfindet.

Zitiervorschlag

Gespräch mit Verfassungsrichter Henning Radtke: . In: Legal Tribune Online, 21.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55468 (abgerufen am: 27.09.2024 )

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