Eine Frage an Thomas Fischer: Straf­mün­dig­keitsalter von Kin­dern senken?

von Prof. Dr. Thomas Fischer

18.03.2023

Nach der Tötung einer 12-Jährigen durch Gleichaltrige werden wieder Forderungen laut, das Strafmündigkeitsalter zu senken. Thomas Fischer erinnert daran, dass der Strafgedanke der "Vergeltung" gegenüber Kindern unangemessen und verboten ist. 

Empörung

Am Mittwoch, 15. März, hatten 38.000 Personen eine Online-Petition mit dem Titel "Verurteilt Luises Mörderinnen! Ändert das Alter der Strafmündigkeit in Deutschland!" unterschrieben. Inzwischen sind es vermutlich mehr. Die Petition bezieht sich auf den berichteten Fall der vorsätzlichen Tötung eines 12-jährigen Mädchens im Siegerland; zwei 12- und 13-jährige Mädchen sollen die Täterinnen sein. 

Als erstes muss man hier anmerken, dass der Titel der genannten Petition offenkundiger Unsinn schon deshalb ist, weil eine rückwirkende Strafbarkeit durch ein Gesetz nicht begründet werden kann. Nach Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) ist nur ein solches Verhalten strafbar, dass "zur Zeit der Tat" materiellrechtlich mit Strafe bedroht war. § 19 Strafgesetzbuch (StGB), lautet: "Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist." Da eine Bestrafung "Schuld", also persönliche Verantwortung voraussetzt und Schuld nicht ohne Schuldfähigkeit bestehen kann (vergleiche § 20 StGB), scheidet eine Bestrafung ("Verurteilung") strafunmündiger Personen aus. 

Dass die Petenten, im Gefolge einer unübersehbaren Zahl von "Social Media"-Schreibern, die mutmaßlichen Täterinnen als "Mörderinnen" bezeichnen, die rechtswidrige Tat als "Mord" (§ 211 StGB) werten, ohne irgendwelche Kenntnisse über den Tathergang und das Vorliegen möglicher Mordmerkmale (§ 211 Abs. 2 StGB) zu haben, passt ins Bild einer hysterisch aufgeregten Empörungswelle, die auf das Geschehen wieder einmal mit den bekannten und eingeübten Reflexen reagiert. 

Dabei ist klarzustellen, dass aus Anlass solcher Geschehnisse weder eine subjektive Betroffenheit noch Gefühle der Empörung überraschend oder "falsch" sind, sondern naheliegend und gut verständlich. Aufgrund welcher Konstellationen im Einzelfall öffentliche Erregungen besonders ausgeprägt sind, ist oftmals nicht genau zu ergründen. Im vorliegenden Fall dürften neben dem jungen Alter des Tatopfers vor allem auch das Alter der mutmaßlichen Täterinnen sowie deren Geschlecht eine wichtige Rolle spielen. Mediale Berichterstattung, die trotz vielfacher Ermahnungen zur Zurückhaltung die Fantasie mit emotionalen Wertungen ("grausam"), Detail-Behauptungen (Anzahl der Messerstiche) und Spekulationen (Persönlichkeit der mutmaßlichen Täterinnen) anheizt, tut ein Übriges. 

Strafmündigkeit

Unabhängig vom Einzelfall ist zu fragen, ob die gesetzliche Festlegung einer Untergrenze der Strafmündigkeit sinnvoll und erforderlich ist. 

Die heutige Grenze von 14 Jahren galt in Deutschland seit 1923 (Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes - JGG); vorher galt seit 1871 eine Grenze von 12 Jahren. Entsprechend weiterer Entwicklungsstufen wurden Jugendliche (14 bis 17 Jahre) regelmäßig dem Jugendstrafrecht unterstellt, Heranwachsende (18 bis 21 Jahre) je nach dem Einzelfall dem Jugend- oder Erwachsenenrecht. 

Während der NS-Zeit wurden zunächst die letztgenannten Grenzen nach unten verschoben. Ab 1943 konnte schon ab dem Alter von 14 Jahren Erwachsenenstrafrecht angewendet werden, und nach § 3 des Reichsjugendgerichtsgesetzes November 1943 sollten auch 12- und 13-Jährige schuldfähig sein, "wenn der Schutz des Volkes wegen der Schwere der Verfehlung eine strafrechtliche Ahndung fordert." Diese Regelungen wurden aufgehoben und 1952 in der DDR und 1953 in der Bundesrepublik die Grenze wieder auf 14 Jahre festgesetzt. 

In anderen Staaten gelten andere, zum Teil strengere Regeln. So liegt die Grenze beispielsweise in der Schweiz, England und den USA (Bundesebene) bei 10 Jahren, in vielen Bundesstaaten der USA bei sechs oder sieben Jahren. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat 2007 empfohlen, die Grenze jedenfalls nicht unter 12 Jahren festzulegen. 

Der Grund dafür, dass überhaupt bei Kindern über eine untere Grenze der "Strafmündigkeit", also Verantwortungsfähigkeit diskutiert wird, liegt auf der Hand und ergibt sich daraus, dass die Menschen nicht als intellektuell und emotional "fertige" Menschen zur Welt kommen, sondern einen – individuell verschiedenen – langen Entwicklungsprozess durchlaufen, in welchem sie unter anderem äußere Regeln der Moral und des formellen Rechts erlernen, vor allem aber auch die "Internalisierung" dieser Regeln in eine individuelle, subjektive Moral- und Verhaltenssteuerung. Hinzu kommen zahlreiche Prozesse der "Reifung", der Konstituierung einer "erwachsenen Persönlichkeit", der Einordnung und Steuerung von Emotionen, Motiven und Verhaltenshemmungen. 

All dies ist heute jedermann im Grundsatz geläufig; eine Gleichbehandlung auch von jungen Kindern mit Erwachsenen, wie sie noch im 19. Jahrhundert üblich war, gilt zurecht als barbarisch. Soweit es um Kinder als Opfer von Straftaten geht, ist diese Sicht heute sogar besonders ausgeprägt, wie sich an der äußerst breiten Diskussion über die Voraussetzungen und Folgen von "Traumatisierungen" bei Kindern zeigt. So geht etwa das Gesetz (§ 176 StGB) davon aus, dass auch 13-jährigen Personen zwingend jede Fähigkeit fehlt, über ihre Sexualität verantwortlich zu bestimmen.  

Bei kindlichen und jugendlichen Tätern ist das anders. Hier wird sehr selten über die besonderen Einschränkungen der Verantwortlichkeit gesprochen, viel öfter über die Willkürlichkeit der Untergrenze und über eine individuelle "Frühreife". In Diskussionen wie der gegenwärtigen (Fall Freudenberg) wird meist auch das Argument eingebracht, "die Jugend" bzw. die Kinder seien heute allgemein und im Durchschnitt "früher reif". Das ist eine etwas überraschende These, wenn man bedenkt, dass bis vor einigen Jahrzehnten ein großer Teil der 14-Jährigen in die "Lehre", also das erwachsene Berufsleben eintrat und heute eine Hypersensibilisierung und extrem hohe emotionale Verletzlichkeit noch von Abiturienten angenommen wird. 

Es gibt keine allgemeinen Regeln und Erkenntnisse, mit Hilfe derer sich "Reife" in einem exakten, quantitativen Maß bestimmen ließe. Deshalb sind Grenzziehungen unvermeidlich, wenn es um die Anwendung von Rechtsregeln geht, hier insbesondere des staatlichen Strafrechts. Eine Aufhebung aller Grenzen nach unten stünde im Konflikt mit dem Gebot der Menschenwürde, denn es ist offenkundig, dass drei- oder siebenjährige Kinder nicht als "Verbrecher" (etwa wegen "Diebstahls" von Schokolade oder "Körperverletzung" bei Raufereien) verfolgt und wie Erwachsene bestraft werden dürfen.

Wo die Grenze anzusetzen ist, unterliegt dem Wandel der Anschauungen und – im Spielraum gesetzgeberischen Ermessens und des Verhältnismäßigkeitsprinzips – dem Willen des Gesetzgebers. 

Die Behauptung, "immer mehr" Kinder begingen schwere Straftaten, wird oft aufgestellt, steht aber empirisch auf schwachen Füßen. Jedenfalls Tötungsdelikte durch Kinder sind extrem selten. 

Strafe   

Jugendliche (14- bis 17-Jährige) können für ein Verbrechen des Totschlags mit einer Jugendstrafe bis zu zehn Jahren bestraft werden (§ 18 Abs. 1 S. 2 JGG). Der Sinn und die Aufgabe von "Strafe" im Allgemeinen ist es nach allgemeiner Ansicht, das Unrecht und die Schuld der Tat zu "sühnen" (Übelszufügung als Reaktion; Genugtuung für Opfer), andere von ähnlichen Taten abzuschrecken, den einzelnen Täter zu "bessern" und von weiteren Taten abzuhalten sowie der ganzen Gesellschaft das Gefühl von Verlässlichkeit der Regeln zu vermitteln. Bei Jugendlichen steht aber nach gesetzlicher Vorschrift das Abhalten von erneuten Straftaten sowie die erzieherische Einwirkung ganz im Vordergrund (§ 2 Abs. 2, § 18 Abs. 2 JGG). Vergeltung, Abschreckung der Allgemeinheit und Normbestärkung spielen keine Rolle, erst recht nicht die einst beigezogene "Volksmeinung" (siehe oben). 

Forderungen, Kinder wegen Straftaten zu verurteilen und die bestehende Strafmündigkeitsgrenze aufzuheben oder zu senken, zielen in aller Regel auf den Gesichtspunkt der "Sühne" sowie die Genugtuungsfunktion von Bestrafungen ab, also auf Gesichtspunkte, die schon bei Jugendlichen nach dem Gesetz keine Rolle spielen. Sie stellen überdies häufig auf die Annahme oder Behauptung ab, Straftaten von unmündigen Kindern seien "folgenlos". Das trifft natürlich nicht zu. 

Für abweichendes, regelverletzendes und schädigendes Verhalten von Kindern sind nicht die Justizbehörden, sondern die Jugendämter zuständig. Sie haben eine breite Palette von Möglichkeiten der Einwirkung bis hin zur dauerhaften Unterbringung in einem Erziehungsheim. Es gibt keine festen Sanktions- oder Einwirkungsregeln, weil jeder Einzelfall hochindividuell ist und von vielen Faktoren beeinflusst wird. 

Einwirkungen eines Strafvollzugs können nur eingeschränkt auf individuelle Konstellationen und Erziehungsbedürfnisse eingehen. Sie haben oft auch schädliche Auswirkungen, denen entgegenzuwirken schon im Jugendstrafrecht nicht einfach ist. Bei Kindern, deren Einstellungen, Perspektiven und Persönlichkeiten sich häufig innerhalb weniger Monate ändern können und deren Entwicklung noch hochgradig "offen" ist, würden die schädlichen Einwirkungen die positiven Erziehungsmöglichkeiten sehr häufig überwiegen. Überdies erscheint es fernliegend, einem 11- oder 12-jährigen Kind mitzuteilen, es müsse jetzt fünf oder 10 Jahre Freiheitsstrafe für eine Tat absitzen, an deren Hergang und Motive es sich schon nach zwei Jahren kaum mehr erinnert. 

Antworten, im Ergebnis:

  1. Strafschärfungsverlangen aus Anlass konkreter Taten sind regelmäßig unklug und undurchdacht und dienen weniger dem Recht als der Regulierung des Empörungsbedürfnisses. Sie sind von "Sühne"- und Genugtuungsgedanken getragen, deren Anwendung auf Kinder unangemessen und gesetzlich verboten ist. 
  2. Untergrenzen für die Strafmündigkeit sind verfassungsrechtlich notwendig und kriminologisch geboten. Die Bestimmung dieser Grenze liegt im gesetzgeberischen Ermessenspielraum. 
  3. Freiheitsstrafen für Kinder (Personen unter 14 Jahren) haben eine Vielzahl schädlicher Folgen, die durch positive Effekte nicht aufgewogen werden. Eine individuell abgestimmte Behandlung durch die Jugendämter und Familiengerichte ist sinnvoll. 

 

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 18.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51345 (abgerufen am: 15.11.2024 )

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