Gerichte entscheiden über Rechtsfälle durch Feststellung von Tatsachen. Wann können sie dabei auf ihre eigene "Sachkunde" zurückgreifen? Wo liegen die Erkenntnisgrenzen? Eine Frage für Thomas Fischer?
Gerichte entscheiden in der Regel über konflikthafte Rechtsfälle. Dabei geht es in den weitaus meisten Fällen – unabhängig vom Gerichtszweig – darum, auf der Basis von Tatsachenfeststellungen Entscheidungen über die Rechtsfragen zu treffen, die für das Ergebnis im jeweils konkreten Fall entscheidend sind.
Tatsachen sind Umstände (Gegebenheiten, Sachverhalte, Geschehnisse, Handlungen), deren Existenz einem "Beweis" zugänglich sind. Das unterscheidet sie von Wertungen. Dabei ist die Abgrenzung zwischen beiden Sphären keineswegs so einfach, wie die Gegenüberstellung der beiden Begriffe suggeriert. Wenn A sagt: "Ich finde dieses Bild schön", ist das offenkundig eine Wertung. Der Satz enthält aber zugleich eine Aussage über eine "innere" Tatsache: "Ich finde" (d.h.: "Ich, A., beurteile dieses Bild so"). Die Wertung ist einem "Beweis" nicht oder nur auf Umwegen und allenfalls mittelbar zugänglich (weil auch Wertungen sich auf ein Hintergrund- und Vorwissen von Tatsachen beziehen; hier: "schön"); die Tatsachenaussage schon: Sie kann wahr oder falsch sein (hier: "ich finde…").
Tatsachen können im Zivilprozess durch bloßen unwidersprochenen Parteivortrag eingeführt werden und gelten dann als wahr. Denn der Gesetzgeber nimmt an, dass die Parteien eines Zivilrechtsstreits in der Regel jeweils das vortragen werden, was für sie günstig ist, und dass gegebenenfalls allseitig nicht vorgetragene Tatsachen den Staat als Entscheider nicht interessieren müssen: Die Parteien bestimmen den Prozessgegenstand.
Wann darf der Richter von sich aus die Wahrheit suchen?
Im Strafrecht ist das bekanntlich anders, weil hier nicht Parteien als Interessenvertreter gegeneinander streiten, sondern die Staatsmacht von Amts wegen (§ 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1, § 244 Abs. 2 StPO) die Tatsachen erforscht und den Bürger (Beschuldigten) notfalls mit Gewalt (§§ 112, 112a StPO) zwingt, sich dem zu stellen. Daher ist ein "Parteivortrag" (Aussage des Beschuldigten) nicht erforderlich und kann auch nicht erzwungen werden (siehe § 243 Abs. 5 Satz 1 StPO; Selbstbelastungsfreiheit), kann aber natürlich, wenn er vorliegt, zu Beweiszwecken verwertet werden.
Strafurteile beruhen – jedenfalls in der Regel – auf dem Beweisergebnis, dieses auf dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO). Beweise werden durch Verwendung von Beweismitteln erhoben; heraus kommt jeweils ein "Ergebnis". Dies ist noch nicht die umfassende Beweis-Würdigung, sondern zunächst einmal nur die Feststellung des Gerichts, welches Ergebnis (Tatsachen und/oder Wertungen) eine einzelne Beweiserhebung erbracht hat: Hat der Zeuge dies oder jenes gesagt? Steht in der verlesenen Urkunde etwas Bestimmtes? Wie beurteilte der Sachverständige den technischen Ablauf oder die Vermeidbarkeit eines Geschehens, usw.?
Grundsätzlich gilt im Strafprozess das "Strengbeweisverfahren"; das bedeutet, Beweise dürfen nur mittels der Beweismittel Zeuge, Sachverständiger, Urkunde oder Augenschein erhoben werden. Etwas anderes ist das "Freibeweisverfahren"; es gilt z. B. für Verfahrensvoraussetzungen und Verfahrenshindernisse. Im "Freibeweis" darf das Gericht grundsätzlich alle Formen der Sachverhaltserkundung anwenden, z.B. Anfragen bei Behörden, telefonische Erkundigungen usw. Es muss die Ergebnisse aber natürlich zum "Inbegriff der Hauptverhandlung" machen, darf sie also nicht verschweigen und in der Entscheidung überraschend verwerten (Art. 103 Abs, 1 GG, Grundsatz des rechtlichen Gehörs). So viel zu ein paar Grundsätzen.
Eben noch Spezialwissen, jetzt schon allgemeinbekannt
Die Feststellung von Tatsachen setzt – wie und wieviel auch immer – Sachkunde des Feststellenden voraus. Wer wie ein tumber Tor in die Welt blickt, versteht nichts, kann Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden und erkennt keine kausalen Zusammenhänge. Man kann davon ausgehen, dass die Mitglieder von gerichtlichen Spruchkörpern in der Regel nicht zu dieser Gruppe von Personen zählen. Auch hier gibt es freilich immer einmal wieder erstaunliche (oder auch lustige) Ausnahmen, bezogen auf einzelne Sachgebiete, die gemeinhin zum vorausgesetzten Allgemeinwissen zählen: Ich habe Richter erlebt, die keinen blassen Schimmer davon hatten, dass ein Motorrad nur in Schräglage um die Kurve fährt, was ein "Getriebe", ein "Suff" (gemeint: SUV), ein Frauenhaus oder der Unterschied zwischen einer Pistole und einem Revolver sind, usw.
Insoweit ist man allerdings rasch bei weniger lustig erscheinenden Fragen angelangt. Vieles, was heute als Spezialistenwissen erscheint, war vor 50 Jahren allgemein bekannt. Umgekehrt: Heutige Alltagskenntnisse von 12-Jährigen galten vor 30 Jahren als "wissenschaftlich umstritten" und waren selbst obersten Gerichtshöfen ein Buch mit sieben Siegeln. Ganz zu schweigen von der Digitalisierung der Kommunikation: Als ich im Jahr 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BGH war, waren die Mitglieder "meines" Senats, lauter Herren zwischen 50 und 60, fest überzeugt, neumodisches Zeug wie ein Computer werde für höchstrichterliches Tun in Tätigkeit niemals gebraucht. Ein HiWi-Kollege, den ich zwecks Anschaffung meines ersten PC um Rat fragte, riet mir, eine Festplatte mit 300 MB anzuschaffen, wenn ich kapazitätsmäßig "auf Nummer sicher" gehen wolle.
Für das Prozessrecht ist all das im Grundsatz gleichgültig. Festzustellen ist, was tatbestandsrelevant ist. Was man nicht kennt, kann man auch nicht feststellen oder suchen: Im Jahr 2005 kam die Justiz ohne Klimawandel, im Jahr 1985 ohne DNA-Profil und im Jahr 1965 ohne "Persönlichkeitsstörung" zur jeweils "erschöpfenden" Tatsachenfeststellung.
Das bedeutet: Welche Sachkunde zur richterlichen Tatsachenfeststellung erforderlich ist, ändert sich – auf der Grundlage der gesetzlichen Tatbestands-Voraussetzungen – mit dem Inhalt des objektiv verfügbaren Wissens. Dieser Grundsatz kann in beide Richtungen wirken: Vor 500 Jahren benötigten Gerichte zur Feststellung, dass ein Angeklagter vom Teufel besessen war, nur wenig mehr als Alltagswissen. Vor 200 Jahren bedurfte es zur selben Feststellung schon der Erhellung durch spezialisierte Gelehrte der Hexenkunde. Und heute würde schon die Frage als Indiz für eine manifeste Geisteskrankheit des Fragenden angesehen werden.
Die Ausgangsfrage zielt nicht auf Regelfälle, sondern auf die Ausnahmen ab. Mit diesem Begriff ist hier nicht unbedingt eine empirische Häufigkeitsverteilung gemeint; vielmehr ein normatives Regel-/Ausnahme – Verhältnis:
Ausreichende Sachkunde, Spezifische Sachkunde, Spezialwissen
In der Regel geht das Gesetz (Recht) davon aus, dass Gerichte, also die Gesamtheit der im Einzelfall entscheidenden Richter, über "ausreichende Sachkunde" zur Feststellung von entscheidungsrelevanten Tatsachen verfügen. So lange es (im Strafrecht) darum geht festzustellen, ob Herr A. Herrn B. auf die Nase geschlagen, Frau C. das Kind D. erstickt oder Person E. die Person F. der Freiheit beraubt, zu irgendetwas "gezwungen" haben und ob das dazu angeblich verwendete Werkzeug oder Mittel überhaupt geeignet war, ist das – scheinbar – so einfach, dass es sich praktisch jeder auch aus weiter Ferne zutraut. Solche Feststellungen gelten als banal, auf der Hand liegend.
Daneben gibt es Feststellungen, die ein gewisses Maß an spezifischer Sachkunde voraussetzen: Was ist ein Herzstillstand? Wie berechnet man Energie? Wie funktionieren ein Butterfly-Messer, eine halbautomatische Pistole oder eine Kundenkreditkarte?
Es gibt aber auch einen sehr großen Bereich von Tatsachen-Feststellungen, in welchem Gerichte regelmäßig keine Ahnung haben, oder nur so viel wie der durchschnittliche Nichtfachmann: Wie hoch war die Anstoß-Geschwindigkeit beim Zusammenprall? Wie schnell wirkte eine chemische Substanz? Waren der Tod oder der Schaden vermeidbar? Was sagen das Elektronenmikroskop über die Haar- und die DNA-Analyse über die Sperma-Spur?
Was gilt für den Richter mit Parallelstudium Physik?
Selbstverständlich kann es vorkommen, dass auf der Richterbank (nur oder auch) eine Person sitzt, die zu genau dieser Frage über ganz spezielle Kenntnisse verfügt, etwa dank Erst- oder Parallelstudium Physik, Biologie oder Psychiatrie. In diesem Fall reicht es nach der ständigen Rechtsprechung des BGH aus, dass diese Richterperson ihr spezielles Fachwissen den anderen "vermittelt" (stets vorbehaltlich der Einführung in die Hauptverhandlung nach § 261 StPO).
Eine Quelle von richterlichem Spezialwissen sind auch "Vorgutachten": Ausreichende Sachkunde kann dem Gericht, so der BGH, sogar durch die Befassung mit einem Gutachten vermittelt worden sein, welches das Gericht für nicht überzeugend hält.
Was man nicht weiß, muss man sich erklären lassen. Es gibt zwei Varianten: Entweder man weiß nicht, mit welchen Methoden man entscheidungsrelevante Tatsachen feststellen soll. Das ist das Metier der sog. sachverständigen Zeugen. Sie sind rechtlich normale Zeugen, sagen also über Tatsachen aus. Für die Feststellung dieser Tatsachen benötigen sie aber über spezielle Fachkunde.
Das ist zum Beispiel die Welt der dem TV-Zuschauer bekannten "SpuSi" (Spurensicherung), die den Kommissaren sagt, sie habe am Hals der Leiche Würgemale, auf ihrem Rücken Totenflecken oder unterhalb der linken Brust ein Tattoo gefunden. Dass Richter sich in Einzelheiten der Rechtsmedizin oder der Informationstechnik detailliert auskennen, ist empirisch unwahrscheinlich.
Keine allgemeinen Grenzen der Sachkunde
Die Sachkunde von Richtern unterscheidet sich faktisch und im Grundsatz nicht von derjenigen aller anderen. Ihr Vorwissen und somit ihre Erkenntnisfähigkeit in ihrer Funktion als Richter speist sich aus Allgemeinbildung sowie aus berufsspezifisch, ausbildungsvermittelt oder praktisch erworbenem Erfahrungswissen. Insoweit gibt es keine allgemeingültigen Regeln. Wer zufällig vor der Rechtswissenschaft auch Medizin studiert hat, weiß Bescheid über die Koronare Herzkrankheit; und wer in der Freizeit Fußballschiedsrichterin in der Bundesliga ist, kennt vielleicht die Endtabelle von 2017 auswendig.
Was damit gesagt sein soll: Es gibt keine immanenten, funktionsbezogenen oder gar abstrakten Grenzen richterlicher Sachkunde. Jeder Richter – Berufs- oder Laienrichter – ist im Einzelfall so sachkundig, wie er ist.
Eine ganz andere Frage ist, wie die Sachkunde von Richtern in der "Inbegriff der Hauptverhandlung" (§ 261 StPO) eingespeist wird. Neben § 261 StPO liefert hierzu § 244 Abs. 4 StPO einen wichtigen Hinweis. Man kann unterscheiden zwischen schlicht "privatem Wissen" und "Spezialkenntnissen". Für das Erstere gilt § 261 StPO: Dass ein Schöffe die Tatörtlichkeit oder der Kammervorsitzende die Entlastungszeugin aus der Kita seiner Kinder als glaubwürdige Person kennt, darf für die Urteilsfindung bestenfalls dann verwertet werden, wenn es in die Hauptverhandlung in der jeweils zulässigen Form "eingeführt" wurde.
Wichtiger ist die Frage der abstrakten Spezialkenntnisse. Die Grenze der problemlosen Verwertbarkeit ist hier grundsätzlich im Begriff der "Offenkundigkeit" zu suchen: Was offenkundig (allgemeinkundig) ist, muss nicht bewiesen und daher auch nicht formell "eingeführt" werden – weder auf Antrag noch von Amts wegen. Die Kenntnis darüber, was ein Pankreas-Carzinom, ein Hufnagel oder eine Neumond-Nacht sind, darf jeder Richter seinem Urteil ohne Beweiserhebung zugrunde legen.
Allgemeinkundig ist, was jedermann aus allgemein zugänglichen Quellen ohne Weiteres erkennbar ist. Es ist evident, dass diese Definition im Einzelfall unsicher ist. Revisionsrichter des Jahres 1964 hielten vielleicht alles für "allgemein"-kundig, was im 24-bändigen Universal-Lexikon mit Goldschnitt stand. Ob 2024 alles allgemeinkundig ist, was in "Wikipedia" (oder gar: "auf X" oder "auf Instagram") veröffentlicht ist oder was man über Suchmaschinen erfahren kann, ist mehr als zweifelhaft.
Fehlen der Sachkunde
Wenn man keine Ahnung hat, diese aber benötigt, muss man sie sich irgendwie beschaffen. Diese Regel gilt im normalen Leben ebenso wie vor Gericht.
Ein Gericht ("Spruchkörper") kann die zur Entscheidung erforderliche Sachkunde im Grundsatz überallher gewinnen – soweit es verfahrensrechtlich zulässig erfolgt. Wenn eine Schöffin Teilchenphysikerin oder ein Schöffe Landschaftsgärtner sind, können sie ihre Spezial-Sachkunde den übrigen Richtern "vermitteln" (vorbehaltlich § 261 StPO). Theoretische Grenzen der richterlichen Sachkunde gibt es nicht. Wenn ein erkennender Richter in einem früheren Leben Atomphysiker, Chirurg oder Informatiker war, ist es eben so.
Davon zu unterscheiden ist aber die Prozessrolle. Ein Richter kann nicht zugleich Beweisperson sein, sich selbst zum Sachverständigen bestellen und dann ein "Gutachten" erstatten, welchem er – zurück in der Rolle des Richters – sodann "glaubt". Das betrifft insbesondere auch die Frage der nur aufgrund besonderer Sachkunde möglichen Feststellungen ("Befundtatsachen"): Auch wenn ein Richter Psychologie studiert hat, kann er nicht als Sachverständiger im von ihm selbst entschiedenen Verfahren Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen und verwerten.
Überprüfung
Nur gestreift werden kann hier schließlich die Frage der Überprüfung richterlicher Sachkunde durch das Revisionsgericht. Da Prozesse nicht durch noch so kundige Sachverständige zu entscheiden sind, sondern durch die Richter, müssen diese durch die Sachverständigen in die Lage versetzt werden, die ggf. schwierigen Tatsachenfragen, die Grundlagen der sachverständigen Befunde sowie der Bewertungen zu verstehen. Dazu reicht es nur im Ausnahmefall aus, in den Urteilsgründen mitzuteilen, man habe alles verstanden und stimme dem Sachverständigen zu. Im Grundsatz muss der Tatrichter die Ergebnisse von Gutsachten und/oder die Substanz eigener Sachkunde im Urteil so genau darlegen, dass einRevisionsgericht ihre Richtigkeit (besser: Rechtsfehlerfreiheit) überprüfen kann.
An diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage, aus welchen Quellen die Revisionsrichter die Sachkunde beziehen, welche es ihnen erlaubt, die Sachkunde von Tatrichtern oder / und Sachverständigen ohne eigene Beweiserhebung zu beurteilen. Dies ist ein Geheimnis des Revisionsrechts, über das bei anderer Gelegenheit nachgedacht werden soll.
Antworten, im Ergebnis
1) Gerichte müssen die Sachkunde haben, welche ihnen die Feststellung und Bewertung von entscheidungserheblichen Tatsachen erlaubt.
2) Wenn diese Sachkunde im konkreten Fall nicht gegeben ist, muss Beweis durch Sachverständigengutachten erhoben werden.
3) Tatrichterliche Sachkunde ist in der Sache nicht begrenzt. Quelle und Inhalt müssen, soweit nicht Allgemeinkundigkeit gegeben ist, in das Verfahren (die Hauptverhandlung) eingeführt und können – unter diesem Vorbehalt -in Kollegialspruchkörpern von einem besonders sachkundigen Richter den anderen vermittelt werden.
4) Erkennende Richter können nicht zugleich Beweispersonen (Sachverständige, sachverständige Zeugen), also Beweisquelle und Beweiswürdigungsinstanz sein.
Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 09.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54947 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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