Eine Frage an Thomas Fischer: "Däm­li­ches Stück Hirn-Vakuum" von Mei­nungs­frei­heit gedeckt?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

03.04.2023

Nach einem Urteil des LG Heilbronn muss die SPD-Politikerin Sawsan Chebli in einem konkreten Fall heftige Worte gegen sich hinnehmen. Von "juristischem Versagen" reden Kritiker. Doch Chebli hat den Ton selbst gesetzt, meint Thomas Fischer.

Mit Urteil vom 23. Februar 2023 hat die 8. Zivilkammer des Landgerichts Heilbronn eine Klage der früheren Berliner Staatssekretärin Chebli gegen einen Facebook-Nutzer u.a. wegen dessen Äußerung, sie sei ein "dämliches Stück Hirn-Vakuum" als unbegründet abgewiesen. Chebli hatte von diesem die Unterlassung sowie ein Schmerzensgeld in Höhe von 5.000 € wegen Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts verlangt. Das Urteil ist kritisch kommentiert worden, etwa am 31. März in einem Interview der Bundestags-Abgeordneten Renate Künast im SPIEGEL

Verfahrensgegenstand

Um der Frage näherzukommen, ob es sich bei der in der Überschrift zitierten Formulierung um eine Beleidigung handelt, muss man zunächst den tatsächlichen Ablauf und Zusammenhang etwas näher beleuchten – denn für die Zulässigkeit einer Äußerung kommt es entscheidend auf den Kontext an: 

Der meist als Kabarettist bezeichnete Künstler Dieter Nuhr besprach im November 2020 in seinem in der ARD ausgestrahlten Programm das Buch "Was weiße Menschen über Rassismus nicht hören wollen – aber wissen sollten" der Journalistin Alice Hasters. Er führte dazu unter anderem aus: 

"Die Frau behauptet ernsthaft, als Weißer wäre ich automatisch Rassist (…) Das Buch war in den USA ein Riesenrenner (…) Ehrlich gesagt glaube ich, dass diese Form der Scheinintellektualität einer arroganten Linken maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass es so etwas wie Donald Trump geben konnte." 

Tatsächlich wurde in dem Buch keineswegs behauptet, "Weiße" seien "automatisch Rassisten". Es war in den USA nicht erschienen und daher dort auch kein "Renner". Die Klägerin Chebli kommentierte dies am 13. November 2020 auf ihrer Facebook-Seite so: 

"Immer wieder Dieter#Nuhr: so ignorant, dumm und uninformiert. Er [kann] nur Witze auf Kosten von Minderheiten machen. Wie lange will @ARD das mitmachen?" 

Hierauf antwortete der Landtagsabgeordnete und Vorsitzende der CDU Brandenburg Jan Redmann mit einem "Twitter"-Beitrag: 

"Hat die politische Linke nun endlich einen Vorwand gefunden, einen der wenigen Kabarettisten, der nicht klar links der Mitte steht, vom Sender nehmen zu wollen? Dieter Nuhr hat einen Fehler gemacht, ok. Er ist dennoch ein meist kluger und oft lustiger Beitrag zur Vielfalt in der Medienlandschaft." 

Daraufhin erschien am 15. November 2020 auf der Facebook-Seite des Beklagten des Heilbronner Verfahrens die Kommentierung: 

"Selten so ein dämliches Stück Hirn-Vakuum in der Politik gesehen wie Sawsan Chebli. Soll einfach abtauchen und die Sozialschulden ihrer Familie begleichen." 

Das Verfahren

Die Klägerin Chebli stützte ihre Klage auf die Behauptung, die Äußerung des Beklagten enthalte im ersten Satz eine Beleidigung nach § 185 StGB und im zweiten Satz eine üble Nachrede im Sinn von § 186 StGB. Sie verletze daher ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 1, Art. 2 GG in Verbindung mit § 823 Abs. 1 BGB) und verwirkliche rechtswidrig Schutzgesetze im Sinn von § 823 Abs. 2 BGB. 

Der Beklagte verteidigte sich auf der Tatsachenseite mit der Behauptung, er sei nicht der Urheber der Äußerung. Er habe seinen Laptop mit geöffneter Facebook-Seite im Familienkreis sowie an seiner Arbeitsstelle stehen lassen; überdies sei er vielleicht gehackt worden. Rechtlich ließ er einwenden, die Äußerung sei von (seinem) Grundrecht auf Meinungsfreiheit gedeckt. 

Entscheidung des Landgerichts

Das Landgericht hat die Klage für abgewiesen. Zwar spreche dafür, dass der Beklagte Urheber der Äußerung war, eine Vermutung; für das Gegenteil sei er beweispflichtig. Darauf komme es aber nicht an, denn die Klage sei aus Rechtsgründen unbegründet. 

Die Ansicht der Klägerin, der zweite Satz der Äußerung enthalte (nur) eine ehrverletzende Tatsachenbehauptung ("Sozialschulden ihrer Familie"), hat das Landgericht nicht geteilt. Vielmehr handele es sich um eine "gemischte" Äußerung, die einen Schwerpunkt im Wertungs- und nicht im Tatsachenbereich habe. Es sei nämlich nicht behauptet worden, die Familie der Klägerin habe tatsächliche Schulden aus konkreten Sozialleistungen; vielmehr habe der Beklagte vor dem Hintergrund, dass die Familie der Klägerin nach Deutschland eingewandert sei, "eine Wertung hinsichtlich der Praxis sozialer Unterstützung von Einwandererfamilien" vorgenommen. Diese Auslegung des Landgerichts – die eine Quelle auch in nicht öffentlich bekannten weiteren Verfahrenserklärungen haben kann – wird man als vertretbar ansehen können. 

Im Hinblick auf die Beleidigung (§ 185 StGB) hat das Landgericht zutreffend dargelegt, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der ordentlichen Gerichte zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und dem strafrechtlichen Verbot der Beleidigung eine "Wechselwirkung" besteht. 

Es hat als Wertungsgesichtspunkte insbesondere herangezogen, 

  • dass ein Sachbezug der Äußerung des Beklagten zu den vorangegangenen öffentlichen Äußerungen bestand, 
  • dass die Klägerin eine in der Öffentlichkeit stehende Politikerin ist; 
  • dass die Klägerin in ihrer zitierten (von dem Politiker Redmann verlinkten) Äußerung ein ähnliches Vokabular wie der Beklagte verwendet habe, 
  • dass die Klägerin die polemische öffentliche Auseinandersetzung selbst begonnen habe.  

Unter Berücksichtigung dieser Umstände, so das Landgericht, könne die Äußerung des Beklagten noch nicht als "reine Schmähkritik" angesehen werden, sondern bewege sich noch innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit. 

Kritik

Das Urteil ist scharf kritisiert worden. Zuallererst von der Klägerin selbst: "Das Gericht sendet mit dieser Entscheidung ein fatales Signal. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass man Menschen aufs Übelste beleidigen und diffamieren darf." Dazu, ob und ggf. warum nicht man ihre eigene Herabsetzung des Künstlers Nuhr als „üble Beleidigung und Diffamierung“ ansehen könnte, hat Frau Chebli nichts erklärt. 

Die Bundestagsabgeordnete Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen) sprang Chebli im SPIEGEL bei. Das Landgericht habe "in der Abwägung und Subsumption juristisch vollkommen versagt", denn es habe die Grundsätze des BVerfG in der – von Künast erstrittenen – Entscheidung vom 19. Dezember 2021 – Az.  BvR 1073/20 – nicht berücksichtigt. Das betreffe, so Künast, insbesondere die Grundsätze, dass Personen, die sich öffentlich engagieren, einen wirksamen rechtlichen Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte verdienen, und dass die Breitenwirkung einer Äußerung sowie ihre "Lebensdauer" (insbesondere im Internet) berücksichtigt werden müssen. 

Ganz so einfach ist es freilich nicht. Zwar ging es in dem Frau Künast betreffenden Fall unter anderem auch um die Äußerung "gehirnamputiert", was der hier vorliegenden Sache formal nahekommt. Es handelte sich dabei aber nur um eine von zahlreichen, überwiegend wesentlich diffamierenderen und verletzenderen Äußerungen, die überdies in einem weithin unsachlichen Zusammenhang standen. Überdies hat das BVerfG in der genannten Entscheidung dem Fachgericht (Kammergericht Berlin) vorgehalten, es habe letztlich gar keine wirkliche Abwägung vorgenommen, indem es "Schmähung" mit "Beleidigung" gleichgesetzt habe. Man kann daher jene Entscheidung keinesfalls einfach auf den vorliegenden Fall übertragen.  

Maßstäbe

Art. 5 Abs. 2 GG lautet: 

"Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre."  

Es kann also nicht jede Schmähung und Herabsetzung anderer Personen durch einen bloßen Hinweis auf die Meinungsfreiheit gerechtfertigt werden. Umgekehrt wird Art. 5 Abs. 1 GG nicht schon dadurch (regelmäßig) ausgehebelt, dass eine Person sich beleidigt "fühlt" oder dass Dritte den Eindruck (die Meinung) haben, jemand sei in seiner Ehre angegriffen. Zu der daher erforderlichen Abwägung im jeweils konkreten Einzelfall haben das Bundesverfassungsgericht und die ordentlichen (Straf- und Zivil-)Gerichte über die Jahrzehnte hoch ausdifferenzierte, auch unübersichtliche Rechtssätze und Regeln entwickelt. 

Hierzu zählen etwa das "Recht zum Gegenschlag"; weiterhin die Grundsätze, dass in der Öffentlichkeit stehende und sich selbst öffentlich äußernde Personen scharfe und unsachliche Kritik eher hinzunehmen haben als andere. In der öffentlichen politischen Auseinandersetzung gelten insoweit nicht dieselben Maßstäbe wie in rein privaten Auseinandersetzungen, jedenfalls, solange bei überspitzten, herabsetzenden und polemischen Äußerungen noch ein Sachbezug erkennbar ist. Andererseits dürfen diese allgemeinen Formeln nicht umgekehrt so ausgelegt werden, dass Personen, die sich öffentlich in umstrittenen und kontrovers diskutierten Sachbereichen engagieren und äußern, sich hierdurch jeglichen Schutzes ihrer Persönlichkeitsrechte begeben. 

Dabei muss berücksichtigt werden, dass die binnen weniger Jahre explodierte öffentliche Kommunikation in den so genannten "sozialen Medien" eine extreme Ausweitung unsachlicher, herabsetzender Äußerungen – meist im Schutz der Anonymität von Account-Namen – hervorgebracht hat, die nach gesicherter Erkenntnis erhebliche Auswirkungen auf das Lebens- und Sicherheitsgefühl zahlloser Menschen hat und in ihrer Qualität nicht mit "alten" Formen öffentlicher Äußerungen gleichgesetzt werden können. Politiker, herausgehobene Funktionsträger, Künstler, Publizisten und andere in der Öffentlichkeit stehende und sich öffentlich engagierende Personen dürfen vom Recht nicht so behandelt werden, als würden sie sich mit ihrer Entscheidung für eine solche Rolle praktisch freiwillig zum Objekt von Hasskampagnen und Menschenwürde-Verletzungen machen.   

Aus "allgemeinen" Grundätzen und Argumentationsregeln, wie sie das BVerfG formuliert hat, können nicht unmittelbar Ergebnisse im Einzelfall abgeleitet werden. Dasselbe gilt auch (und erst recht) für Argumente einer politischen Meta-Ebene, wie sie die Abgeordnete Künast formuliert hat: Dass ein wirksamer Schutz gegen "Hass" bestehen müsse. Das ist allgemein richtig, sagt aber nichts darüber, wann und warum "Hass" (als Äußerungsform) vorliegt und in welchem Verhältnis dieser Begriff etwa zum Begriff der "Schmähkritik" steht. 

Das erschließt sich, wenn man die zahllosen Veröffentlichungen zum Thema der "Hass"-Kommunikation oder "Hasskriminalität" im Internet oder zu sozialen und individuellen Auswirkungen von "Hass" (Depression, Mobbing, Angst, Verrohung usw.) betrachtet. Der Begriff wird inzwischen undifferenziert für teilweise extrem unterschiedliche und gewichtige Sachverhalte verwendet. Er hat insoweit selbst wieder einen materiell herabsetzenden Gehalt gewonnen, indem er etwa als allgemeine Charakterisierung von Kritikern als "Hater" usw. verwendet wird.  

Bewertung

Was kann man daraus für den Fall der Klägerin (Betroffenen) Chebli ableiten? Die Behauptung, das Landgericht habe entschieden, die öffentliche Bezeichnung als "dämliches Stück Hirn-Vakuum" sei erlaubt, ist falsch. Dies hat das Landgericht nicht entschieden, denn es hatte keine allgemeinen Rechtssätze zu abstrakten Einzel-Fragen aufzustellen, sondern einen konkreten Streitfall zu entscheiden. Daher hat das Landgericht auch nicht entschieden, Politikern komme kein Persönlichkeitsschutz zu.   

Es hat vielmehr in einem sehr speziellen Einzelfall geprüft, ob dieser allgemeine, aus Art. 1 und 2 GG, § 185 StGB und § 823 Abs. 1 und 2 BGB folgende Schutz hier eingreife und eine Verurteilung des Beklagten rechtfertige. 

Dabei war zu berücksichtigen, dass die Klägerin Chebli die öffentliche polemische Diskussion begonnen hat, indem sie den Künstler ("Kabarettisten") Nuhr, bezogen auf seine Persönlichkeit, als "so ignorant, dumm und uninformiert" beschimpfte und ausführte, er "(könne) nur Witze auf Kosten von Minderheiten machen". Zwar handelte es sich bei dem hierauf bezogenen Facebook-Beitrag des Beklagten nicht um einen "Gegenschlag" im Sinne der Rechtsprechung, denn er war ja von der Chebli-Äußerung persönlich nicht betroffen. Er äußerte sich aber in demselben, durch Verlinkung unmittelbar erkennbaren Sachzusammenhang, auf den seine auf die Persönlichkeit der Klägerin Chebli bezogene Äußerung im Zusammenhang stand. 

Zutreffend ist auch die Wertung des Landgerichts, die Bezeichnung einer Person als "ignorant und dumm" sei im Vokabular der Bezeichnung als "dämliches Stück" zumindest ähnlich. Das gilt auch für die Bezeichnung "Hirn-Vakuum". Sie geht zwar in der Schärfe über den Chebli-Angriff hinaus, erreicht aber noch keine völlig neue Qualität (wie dies etwa Bezeichnungen aus dem Fall Künast getan haben). Jemanden als "ignorant und dumm" einerseits, als "dämlich" und hirnlos andererseits zu bezeichnen, ist in seiner Herabsetzungs-Qualität ziemlich ähnlich. 

Rein fiktiv und am Rande gefragt: Was hätte die Klägerin Chebli (hypothetisch) eingewandt, wenn der Künstler Nuhr sie wegen Schmähkritik ("ignorant und dumm") beim Landgericht Berlin verklagt hätte? Ich vermute, sie hätte vortragen lassen, dies sei eine ganz legitime scharfe Kritik an künstlerischer Leistung (§ 193 StGB) und im Übrigen von öffentlich (und gewerblich) mit polemischen Meinungsäußerungen auftretenden Personen wie Nuhr nach allgemeinen Regeln hinzunehmen. Nuhrs Klage wäre, da bin ich sicher, unter dem Beifall der Nuhrkritiker-Kreise (zu denen sich, am Rande bemerkt, der Verfasser zählt) abgewiesen worden. 

"Sozialschulden"

Wenn man von der Vertretbarkeit der tatsächlichen Auslegung des zweiten Satzes durch das Landgericht ausgeht, enthält die Äußerung eine allgemeine, politisch abwegige Herabsetzung von Immigranten, denen eine Pflicht zur "Schuldbegleichung" gegenüber Gesellschaft und/oder Staat unterstellt wird. Das ist blanker Unsinn, aber keine Beleidigung und auch keine Volksverhetzung.  

Ergebnis:

  1. Das Landgericht hat nicht allgemein über die Strafbarkeit der zitierten herabsetzenden Äußerung entschieden, sondern unter Berücksichtigung der allgemeinen Regeln über die Rechtswidrigkeit der Äußerung im konkreten Einzelfall. 
  2. Die Entscheidung des Landgerichts in der Sache ist vertretbar. Dass man unter Umständen auch zu einer anderen vertretbaren Entscheidung hätte kommen können, ist unerheblich. 
  3. Eine Gleichsetzung mit dem "Fall Künast" ist in der Sache nicht gerechtfertigt. 
  4. Die Beleidigungs-Rechtsprechung eignet sich nicht für formelhafte abstrakte Rechtssätze darüber, welche Äußerungen "erlaubt" und welche "verboten" seien. Die Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und ihre Grenzen bestimmenden Regeln muss stets unter Beachtung der Umstände des Einzelfalls vorgenommen werden. 
  5. Allgemeine, politische Meta-Regeln, wie die, es müsse "dem Hass entgegengetreten" oder es müsse "das Persönlichkeitsrecht geschützt" werden, sind Programmsätze, die nicht geeignet sind, die Entscheidung von Streitfällen im Einzelfall zu bestimmen.  

Das ganze Meinungsspektrum bei LTO. Lesen Sie hier, warum aus Sicht von LTO-Chefredakteur und Medienrechtler Felix W. Zimmermann die Äußerungen als Beleidigungen einzustufen sind. 

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 03.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51465 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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