Der EuGH läutet den Dieselskandal 2.0 ein: Auch bei fahrlässiger "illegaler Abschalteinrichtung" müsse es Schadensersatz geben. Der BGH hielt das für völlig abwegig. Doch das EuGH-Urteil hat Überzeugungskraft.
"Die Rechtslage ist (…) von vornherein eindeutig" (BGH, Urt. vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19). "Weder Vorabentscheidungsersuchen einzelner Landgerichte noch die Stellungnahme der Europäischen Kommission (…) geben Anlass, an der Annahme eines acte clair zu zweifeln" (BGH, Urt. vom 16.09.2021 - VII ZR 190/20), sprach der Bundesgerichtshof (BGH) in völliger Selbstgewissheit.
Schadensersatzansprüche von Diesel-Käufern mit illegalem Thermofenster seien so abwegig, dass nach der acte-clair-Rechtsprechung nicht einmal eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) angebracht sei. Ab heute ist klar: Diese Annahme des BGH war ein kolossaler Irrtum.
Millionen Diesel-Fahrer können sich wahrscheinlich bald bei unterinstanzlichen Gerichten bedanken, die weniger arrogant als die zuständigen BGH-Richter:innen sehr wohl Zweifel hatten. "Kann es wirklich richtig sein, dass der Einbau verbotener Abschalteinrichtungen in Diesel-Pkws, die die Abgasreinigung bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen herunterregeln, die Luft verpesten, keinen Schadensersatz für Käufer auslöst?", fragte etwa ein Einzelrichter am LG Ravensburg sinngemäß den EuGH.
Und der entschied jetzt: Ein Käufer eines Kfz hat einen "Anspruch darauf (…), dass dieses Fahrzeug nicht mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 dieser Verordnung ausgestattet" ist. Denn Normen, die Autoherstellern untersagen, die Gesundheit der Bevölkerung zu schädigen, schützen nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch den Käufer von entsprechenden Pkws, denen die Rechtskonformität des Fahrzeugs durch eine sogenannte Übereinstimmungserklärung versichert wurde. Da Käufer solcher Fahrzeuge aktuell vom Risiko bedroht sind, dass ihre Fahrzeuge stillgelegt werden, eine alles andere als abwegige Ansicht.
Von Arroganz zur Zurückhaltung
Wenn der BGH keinen Drittschutz im Unionsrecht erkennen mochte, ist das angesichts der Normunklarheit in diesem Bereich natürlich gut vertretbar. Nicht nachvollziehbar ist allerdings die nicht zu irritierende Starrköpfigkeit des BGH, wenn die Gegenauffassung von mehreren Landgerichten vertreten wird. Stattdessen haben mehrere BGH-Senate diese nur kurz abgewatscht. Die Begründung des BGH zum mangelnden Drittschutz blieb hingegen selbst eher kursorisch.
Immerhin: In dem Moment als der BGH durch eine entsprechende Stellungnahme des Generalanwalts im Juni 2022 erkannte, dass auch in Luxemburg Zweifel bestehen, wurde die Notbremse gezogen. Laufende Verfahren auf "hold" gesetzt. Und nun will der BGH schon am 8. Mai darüber verhandeln, wie seine Rechtsprechung angepasst werden muss.
Fahrlässige Abschalteinrichtung reicht
Viel Spielraum lässt die EuGH-Rechtsprechung dem BGH wohl nicht. Klar ist: Das Erfordernis einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung (§ 826 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auf Seiten der Autohersteller – diese bejahte der BGH im originären VW-Fall der "Umschaltlogik" im Jahre 2020 – ist keine Voraussetzung mehr. Es genügt für § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. mit dem Unionsrecht einfaches Verschulden, also auch Fahrlässigkeit (siehe § 276 BGB). Demnach muss also nicht einmal die positive Kenntnis einer illegalen Abschalteinrichtung auf Seiten der Automobilhersteller nachgewiesen werden. Eine fahrlässige Annahme der Legalität der Abschalteinrichtung genügt.
Diese dürfte vor dem Hintergrund, dass Abgaswerte im Realbetrieb hoffnungslos gerissen wurden, obwohl bessere Abgastechnik zur Verfügung stand und in vielen Fällen in den USA auch eingebaut wurde, wohl eher schwer zu verneinen sein. Insoweit hätten Hersteller auf Nummer sicher gehen können, hätten sie "up to date"-Abgasreinigungssysteme eingebaut. Genau dies unterblieb – aus Kostengründen.
Vor allem: Wie man ernsthaft davon ausgehen können sollte, eine Abgastechnik sei legal, die weite Teile des Jahres – wenn es kalt oder auch nur kälter ist – nicht funktioniert, dürfte jeden guten Glauben ausscheiden lassen.
Gewinner das Tages sind die Anwälte, auch diejenigen, die heute verloren haben. Denn auch wenn im Bereich der Dieselprozesse teilweise eine ausgewiesene Feindschaft zwischen den Anwälten beider Seiten besteht, von der neu zu erwartenden Klagewelle profitieren beide Lager. Es geht um viele Millionen, mindestens.
Realer Schaden in Sichtweite
"Der Dieselkunde" und damit der Verbraucher wird natürlich ebenfalls frohlocken, angesichts der Möglichkeit, Schadensersatz für ein Auto zu erhalten, was – jedenfalls bislang – ohne jede Einschränkung genutzt werden konnte.
Wenn man ehrlich ist, ist der monetäre Schaden auf Seiten der Diesel-Fahrer bisher eher ein hypothetisches Konstrukt des ungewollten Vertrages, das von einer rechtstreuen Behörde ausgeht, die durchgreift und Betriebsuntersagungen verhängt. Vor diesem Hintergrund war das VW-Urteil des BGH, in dem das Gericht Schadensersatzansprüche bei der VW-Abschaltautomatik bejahte, auch sehr verbraucherfreundlich, denn bekanntlich kam es faktisch selbst bei den VW-Abschalteinrichtung weder zu Betriebsuntersagungen, noch wurde eine Hardwarenachrüstung verlangt, sondern nur ein lächerliches Software-Update, das den Wagen im Regelfall kaum sauberer machte.
Doch nun haben sich die Vorzeichen geändert. Nach einem Urteil des VG Schleswig vom Februar 2023 droht die Stilllegung der Dieselfahrzeuge mit illegalem Thermofenster. Der Schaden der Dieselkäufer könnte also real werden. Auch von daher ist die verbraucherfreundliche Auslegung der Rechtslage durch den EuGH, neben seinem immer wieder betonten Bestreben Umweltschutz durchsetzen, von einiger Überzeugungskraft.
EuGH widerspricht BGH im Dieselskandal: . In: Legal Tribune Online, 21.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51368 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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