LG Erfurt erkennt in Dieselfall Rechte der Natur an: Jetzt klagt die Natur mit

von Dr. Franziska Kring

15.08.2024

Flüsse, die klagen können? In Staaten wie Ecuador gibt es bereits eigene Rechte der Natur. Anders in Deutschland. Ein Richter am Landgericht Erfurt hat jetzt einen Vorstoß gewagt – in einem Verfahren zum Diesel-Abgasskandal. 

Seit vielen Jahren arbeiten die deutschen Gerichte tausende Verfahren im sogenannten "Dieselskandal" ab. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sogar mit dem VIa. Zivilsenat einen eigenen Senat für Dieselfragen eingerichtet. Viele Fragen sind geklärt: Kunden, in deren Autos eine illegale Abschalteinrichtung verbaut wurde, können vom Hersteller Schadensersatz verlangen – auch, wenn der Hersteller "nur" fahrlässig gehandelt hat. Die Höhe beträgt regelmäßig zwischen fünf und 15 Prozent des Kaufpreises, wobei in gewissen Konstellationen Nutzungen angerechnet werden müssen. Über diese Grundsatzentscheidung des BGH aus Juni 2023 hatte LTO ausführlich berichtet.

Einen solchen "ganz normalen" Dieselfall hatte auch das Landgericht (LG) Erfurt zu entscheiden. Auch das Ergebnis bewegt sich in diesem Rahmen: Der Käufer eines Autos mit einem unzulässigen Thermofenster bekommt "kleinen" Schadensersatz, d.h. der Kaufvertrag wird nicht rückabgewickelt, sondern der Käufer erhält eine Erstattung in Höhe von zehn Prozent des ursprünglichen Kaufpreises, hier 6.670 Euro. 

Spannend ist allerdings die Begründung: Als erstes deutsches Gericht erkennt das LG Erfurt die "Rechte der Natur" an, die "von Amts wegen" zu berücksichtigen seien. Diese träten bei der Bemessung der Schadenshöhe, die das Gericht nach § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO nach freiem Ermessen schätzt, "schutzverstärkend hinzu" (LG Erfurt, Urt. v. 02.08.2024, Az. 8 O 1373/21). Diese Eigenrechte der Natur ließen sich aus der EU-Grundrechtecharta ableiten, insb. aus dem Recht auf Leben aus Art. 2 und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 3 i.V.m. Art. 37, nach dem ein hohes Umweltschutzniveau in die EU-Politik einbezogen werden muss. Die Grundrechte seien "ihrem Wesen nach" auf die Natur oder einzelne Ökosysteme – sogenannte ökologische Personen – anwendbar, so Richter Dr. Martin Borowsky in dem Urteil, das LTO vorliegt.

Wenn Flüsse klagen können

In anderen Staaten sind bestimmte Rechte der Natur keine Seltenheit mehr. So enthält die Verfassung von Ecuador – die Einzige, die Rechte der Natur ausdrücklich anerkennt – etwa ein Recht auf uneingeschränkte Achtung der Existenz der Natur und auf die Erhaltung und Regeneration ihrer Lebenszyklen. Jede Person bzw. Personengruppe kann diese Rechte gesetzlich durchsetzen.

Neuseeland dagegen erkennt die Rechtspersönlichkeit zweier Ökosysteme gesetzlich an. Der Fluss Whanganui und der ehemalige Nationalpark Te Urewera haben demnach alle Rechte inne, die innerhalb des neuseeländischen Rechtssystems Rechtssubjekten zuteilwerden. Auch der Klamath River in Kalifornien wurde zur juristischen Person erklärt, der indische Fluss Ganges und sein Nebenfluss Yamuna wurden von einem indischen Gericht zu Lebewesen erklärt.

Im LTO-Interview schlug Doktorandin Jula Zenetti, die zu Eigenrechten der Natur forscht, vor, dass Umweltverbände als "eine Art Vormund oder Treuhänder die Rechte des Ökosystems geltend machen können".

LG Erfurt: Auch die Natur ist eine "Person"

Für Richter Borowsky kann es offenbleiben, "ob vorliegend die Natur als solche oder aber einzelne durch Abgase (besonders) geschädigte Ökosysteme Schutz verlangen". Aus der Charta ergebe sich das "umfassende Recht ökologischer Personen, dass ihre Existenz, ihr Erhalt und die Regenerierung ihrer Lebenszyklen, Struktur, Funktionen und Entwicklungsprozesse geachtet und geschützt werden", heißt es in dem Urteil. Diese Auslegung des Unionsrechts sei aufgrund globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel und drohenden irreversiblen Schäden geboten. 

Mit der EU-Grundrechtecharta kennt sich Borowsky bestens aus, hat er doch im Jahr 2000 im ersten europäischen Konvent, dem sogenannten Grundrechtekonvent, auf Fachebene mitgewirkt und die Charta mit erarbeitet.* Außerdem kommentiert er den ersten Titel der Charta im Standardkommentar zur EU-Grundrechtecharta.

"Personen" im Sinne der EU-Grundrechtecharta seien nicht nur Menschen, sondern auch die Natur oder Ökosysteme wie Flüsse oder Wälder, heißt es in dem Urteil. Zahlreiche Sprachfassungen der EU-Grundrechtecharta verwendeten im ersten Titel der Charta mit den fundamentalen Rechten nicht den Begriff "Mensch", sondern den deutungsoffenen Begriff "Person" bzw. "personne" (französische Version) oder "everyone" (englische Version). 

Bis zum zweiten europäischen Konvent, dem "Verfassungskonvent", der in den Jahren 2002 und 2003 den Entwurf für den Vertrag über eine europäische Verfassung erarbeitete, sprach auch der deutsche Text der Charta von "Person". Beim Verfassungskonvent wurde der Begriff aber durch "Mensch" ersetzt. Um Rechte der Natur ging es damals noch nicht. Vielmehr kam die Befürchtung auf, der Begriff der "Person" sei zu eng und würde gewisse Personengruppen wie etwa Säuglinge oder Menschen mit Behinderungen ausschließen, wie Borowsky im Gespräch mit LTO erläutert.

"Waffengleichheit" mit juristischen Personen

Für Borowsky ist kein Grund ersichtlich, juristische Personen – oder bald auch eine Künstliche Intelligenz – umfassend grundrechtlich zu schützen, aber ökologische Personen nicht. Deshalb werde mit der Anerkennung von ökologischen Personen nur eine "Waffengleichheit" hergestellt.

Auch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 der Charta stehe der Anerkennung von Rechten der Natur nicht entgegen, sondern – im Gegenteil – verlange diese sogar. Sie trage dazu bei, dass Menschen auch in Zukunft ein Leben in Würde führen können.

Rechte der Natur in privatrechtlichen Streitigkeiten?

Dass er mit seiner Auffassung "zwar nicht in wissenschaftlicher Hinsicht, wohl aber in der Rechtsprechung" Neuland betritt, macht Borowsky in seinem Urteil deutlich, auch wenn die Erwähnung der Rechte der Natur in erster Linie symbolische Bedeutung haben dürfte. 

Bemerkenswert ist, dass die Rechte der Natur ausgerechnet in einem Diesel-Abgasfall, also einem privatrechtlichen Fall, in dem ein Käufer vom Hersteller Schadensersatz verlangt, berücksichtigt werden. Anders als in bisherigen Diskussionen zu den Rechten der Natur geht nicht darum, dass Rechte des jeweiligen Ökosystems eingeklagt werden sollen.

Vielmehr "gelangen die Rechte der Natur durch die Hintertür in den Erfurter Gerichtssaal", wie Dr. Andreas Gutmann und Jenny Garcia Ruales im Verfassungsblog im Juni nach der mündlichen Verhandlung schrieben. Das LG gehe davon aus, die Rechte der Natur begründeten eine "objektive Werteordnung" und strahlten "in die Rechtsbeziehung zwischen Privaten ein".

Weiteres Diesel-Verfahren liegt beim EuGH

Borowsky hat noch über zwei weitere "Dieselfälle" zu entscheiden, in denen es ebenfalls um Rechte der Natur gehen wird. Ein Urteil wird für Ende August erwartet (Az. 8 O 836/22).

Ein weiteres Diesel-Verfahren liegt derzeit beim Europäischen Gerichtshof (EuGH, Az. C-276/20). Auch der Vorlagebeschluss (Az. 8 0 1045/18) thematisiert die Rechte der Natur. Er wirft nämlich die Frage auf, ob es mit der EU-Grundrechtecharta – u.a. mit den "aus ihr begründeten Eigenrechten der Natur" – vereinbar wäre, wenn sich der Schadensersatzanspruch eines Käufers im Ergebnis "auf null" reduziert, nachdem Vorteile angerechnet worden sind. Es bleibt abzuwarten, ob und wie der EuGH sich zu dieser Frage verhalten wird.

*Korrigiert am 16.08.2024, 09:30 (Red.). Vorher hieß es, er sei Mitglied des Grundrechtekonvent gewesen.

Zitiervorschlag

LG Erfurt erkennt in Dieselfall Rechte der Natur an: . In: Legal Tribune Online, 15.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55217 (abgerufen am: 17.08.2024 )

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