Ex-VW-Chef wegen Abgasskandals auf der Anklagebank: Ab wann wusste Martin Win­ter­korn Bescheid?

von Dr. Max Kolter

02.09.2024

Ab Dienstag muss sich der ehemalige VW-Vorstandschef Martin Winterkorn strafrechtlich für die Dieselaffäre verantworten. Das LG Braunschweig verhandelt über verschiedene Vorwürfe aus drei Anklagen. Die Kernfrage ist jeweils die gleiche.

Fast genau neun Jahre ist es her, dass der Dieselskandal bei Volkswagen aufflog. Nun soll endlich die Rolle des damaligen Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn detailliert strafrechtlich aufgearbeitet werden. Die 16. Strafkammer des Landgerichts (LG) Braunschweig verhandelt ab Dienstag über drei unterschiedliche Anklagen, zwei der Staatsanwaltschaft Braunschweig aus 2019 sowie eine der Staatsanwaltschaft Berlin aus 2021. Die Wirtschaftsstrafkammer hatte die drei Anklagen im März 2024 zur gemeinsamen Hauptverhandlung verbunden.

Die erste Anklage aus Braunschweig betrifft den Betrug von Dieselkäufern. In diesem sogenannten NOx-Verfahren sollte Winterkorn ursprünglich neben vier weiteren Personen auf der Anklagebank sitzen. NOx bezeichnet die chemische Verbindung, um die es beim Abgasskandal geht: Die Bezeichnung NOx fasst Stickstoffmonoxid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2) zusammen. In der Berliner Anklage geht es um eine Falschaussage Winterkorns vor dem Diesel-Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag 2017. Die zweite Braunschweiger Anklage wirft Winterkorn Marktmanipulation zulasten von Anlegern vor.

Obwohl sich die Straftatbestände erheblich unterscheiden, was das geschützte Rechtsgut und die hierdurch geschädigten Personen angeht, wird sich der Prozess im Kern um die gleiche Frage drehen: Wann wusste Martin Winterkorn davon Bescheid, dass in bestimmten Fahrzeugtypen illegal Abschalteinrichtungen verbaut worden waren?

Winterkorn fehlte im ersten großen Betrugsprozess 

"Dieselgate" war im September 2015 durch Nachforschungen von US-Umweltbehörden und Wissenschaftlern aufgeflogen. Die Affäre stürzte VW in die schwerste Krise der Firmengeschichte und kostetet Milliarden Euro für die juristische Aufarbeitung. Winterkorn trat zurück und sagte später, er habe zu akzeptieren, dass sein "Name verbunden ist mit der sogenannten Dieselaffäre". Eine strafrechtliche persönliche Verantwortung wies er aber stets von sich. Anfang 2024 äußerte sich Winterkorn erstmals als Zeuge vor Gericht. "Ich halte diese Vorwürfe für unzutreffend", sagte der frühere Konzernlenker im milliardenschweren Zivilprozess von Investoren gegen VW vor dem Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig. Winterkorn bezog sich dabei auf die beiden Strafverfahren wegen Betrugs und Marktmanipulation. 

Das erste dieser beiden, das NOx-Verfahren, richtet sich neben Winterkorn gegen vier weitere Ex-VW-Manager sowie -Ingenieure. Ursprünglich hatte die Braunschweiger Staatsanwaltschaft sie gemeinsam vor dem dortigen LG angeklagt. Aber kurz vor Prozessbeginn im September 2021 attestierte ein Gutachten Winterkorn nach mehreren Hüftoperationen eine fehlende Verhandlungsfähigkeit. Um dennoch mit der Aufarbeitung von "Dieselgate" voranzukommen, trennte die 6. Strafkammer den Winterkorn-Komplex von diesem Verfahren ab. Das Verfahren gegen die vier Mitangeklagten ist nach drei Jahren Verhandlung nicht beendet; Termine sind noch bis Januar 2025 angesetzt.

Gegen Winterkorn bejahte die Kammer in ihrem Eröffnungsbeschluss einen hinreichenden Tatverdacht eines gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs gemäß § 263 Abs. 5 Strafgesetzbuch (StGB). Wird Winterkorn deshalb verurteilt, droht eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren.

Geschädigte des Betrugs sind laut Anklage die Käufer der von der Manipulationssoftware in Europa und den USA betroffenen Fahrzeuge. Deren Anzahl beziffert die Anklage auf neun Millionen, den Gesamtschaden der Käufer auf mehrere 100 Millionen Euro. Diese Zahlen ergeben sich aus dem gesamten Tatzeitraum, der in der gegen die fünf Manager erhobenen Anklage benannt war: von 2006 bis 2015. Da Ex-CEO Winterkorn allerdings eine Kenntnisnahme von der Manipulation erst im Laufe des Jahres 2015 zur Last gelegt wird, ist der Vermögensschaden, für den er gegebenenfalls strafrechtliche Verantwortung trägt, deutlich geringer.

Hat Winterkorn den Bundestag belogen?

Im zweiten Teil des Verfahrens geht es um den Vorwurf, den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags zur Dieselaffäre belogen zu haben. Am 19. Januar 2017 hatte Winterkorn dort ausgesagt, erst im September 2015 davon Kenntnis erlangt zu haben, dass in Dieselfahrzeugen Abschalteinrichtungen verbaut worden seien. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig geht dagegen davon aus, dass er bereits im Laufe des Sommers davon erfahren hatte. Sie sieht in der Aussage deshalb eine uneidliche Falschaussage gemäß §§ 153, 162 Abs. 2 StGB.

Wann Winterkorn vom großflächigen Einbau der Manipulationssoftware erfahren hat, ist nicht nur für die Strafbarkeit wegen Falschaussage relevant. Vielmehr hängt auch die Strafbarkeit wegen Betrugs der Autokäufer sowie wegen Marktmanipulation vom Zeitpunkt der Kenntnisnahme ab. Denn sowohl die Täuschung der Autokäufer als auch die Täuschung der Kapitalanleger ist nur strafbar, wenn sie vorsätzlich erfolgt. 

Im NOx-Betrugsverfahren ist der Zeitpunkt auch für die Höhe des bei den Käufern eingetretenen Vermögensschadens maßgeblich. Dieser kann sich auf das Strafmaß auswirken.

Am Kapitalmarkt kommt alles auf den Zeitpunkt an

Im Verfahren wegen Marktmanipulation kommt es sogar auf Tage und Stunden an: Der Vorwurf lautet hier auf verspätete Ad-hoc-Mitteilung am Kapitalmarkt. Emittenten wie die Volkswagen Aktiengesellschaft sind verpflichtet, Informationen, deren Veröffentlichung sich potenziell auf den Kurswert auswirkt, unverzüglich nach Kenntniserlangung offenzulegen. Hier wird den Unternehmen kein langer Überlegungszeitraum eingeräumt – der Markt muss über Verdachtsmomente und Ermittlungen sofort informiert werden.

Wer die Ad-hoc-Information vorsätzlich unterlässt oder vorsätzlich zu spät publiziert, machte sich bis 2016 nach § 38 WpHG i.V.m. §§ 20a, 38 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) strafbar. Heute sind die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die nunmehr in der EU-Marktmissbrauchsverordnung geregelten Marktverhaltenspflichten in den §§ 119 ff. WpHG normiert.

VW bzw. Winterkorn als damaligem Vorstandschef wirft die Anklage konkret vor, Anleger zu spät über den Einbau illegaler Abgassoftware und die mit dem Bekanntwerden einhergehenden Schadensersatz- und Bußgeldrisiken informiert zu haben. Die Ankläger gehen davon aus, dass Winterkorn von dem Einbau der Software bei Dieselmotoren des Typs EA 189 in 500.000 Fahrzeugen auf dem US-Markt Bescheid wusste.

Für diesen Anklagevorwurf kommt es somit auf die Kenntnis bereits von ad-hoc-publikationspflichtigen Verdachtsmomenten ganz zu Beginn des Bekanntwerdens des Abgasskandals an. Demgegenüber wird im Betrugsverfahren wohl erst eine etwas sicherere Erkenntnis des Einbaus der Schadsoftware und des damit verbundenen Schadens zur Strafbarkeit führen. Weil beide Verfahren aber einen ähnlichen Vorwurf zum Gegenstand haben und Staatsanwaltschaft und LG im Januar 2021 – vor der Abtrennung des Winterkorn-Komplexes im NOx-Verfahren – dort eine zeitnahe Verurteilung erwarteten, hatte die Wirtschaftsstrafkammer das WpHG-Verfahren damals vorläufig nach § 154 Strafprozessordnung eingestellt. Weil im WpHG-Prozess im kommenden Jahr allerdings die Verjährung drohte und das NOx-Verfahren gegen Winterkorn nach der Abtrennung erst jetzt beginnt, beschloss die Wirtschaftsstrafkammer auf Antrag der Staatsanwaltschaft im Dezember 2023, das Verfahren wieder aufzunehmen.

Gesundheitlich angeschlagener Winterkorn braucht Pausen 

Bei Winterkorns viertägiger Befragung als Zeuge im Zivilprozess vor dem OLG wurde deutlich, dass die medizinischen Operationen Spuren hinterlassen haben. Winterkorn wirkte gesundheitlich angeschlagen und brauchte immer wieder längere Pausen. Das dürfte auch für den Strafprozess vor dem LG gelten, wenn dieser wie geplant startet. Die 16. Strafkammer hat 89 Termine bis September 2025 angesetzt. Berichte über die Gesundheit des 77‑Jährigen ließen zuletzt Zweifel an der Planung aufkommen.

Erst vor wenigen Wochen, im Juli dieses Jahres, musste Winterkorn nach einem medizinischen Notfall erneut am Knie operiert werden. Der Eingriff sei gut verlaufen, Winterkorn körperlich aber stark geschwächt, hieß es damals aus seinem Umfeld. Ein Aufenthalt in einer Reha-Klinik wurde nötig.

Der Prozessauftakt soll aber stattfinden, bestätigte LG-Pressesprecher Benedikt Eicke am Montag gegenüber LTO. Ob am Dienstag mehr geschehen wird als die Verlesung der drei Anklagen, sei offen. Die Erfahrung aus dem abgetrennten NOx-Betrugsprozess gegen vier weitere Angeklagte lehrt aber, dass bereits die Verlesung der ersten Anklage um die zwei Stunden dauern könnte. Die WpHG-Anklage sei ähnlich lang, so Eicke. Dass das Gericht am Dienstag bereits mit der Beweisaufnahme beginnt, ist daher unwahrscheinlich. Ob und inwiefern Winterkorn sich zu den Vorwürfen einlassen wird, ist unklar. Dazu wird sich die Verteidigung um den Frankfurter Rechtsanwalt Dr. Felix Dörr am Dienstag äußern. Sie hat auch die Möglichkeit, für Winterkorn ein Statement zu verlesen.

Mit Material der dpa

Zitiervorschlag

Ex-VW-Chef wegen Abgasskandals auf der Anklagebank: . In: Legal Tribune Online, 02.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55319 (abgerufen am: 06.09.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen