Der BGH hat alles getan, um weiteren Dieselstreit vor Gericht zu vermeiden. Doch die tatrichterlichen Entscheidungen kann er nicht vorwegnehmen und so wird bald weiter gestritten, diesmal um Verschuldensfragen. Endlich die finale Runde?
"Möge der Dieselskandal endlich Geschichte sein". Das wünscht sich neben den Autoherstellern wohl niemand mehr als deutsche Richterinnen und Richter, die seit vielen Jahren abertausende Verfahren abarbeiten müssen.
Von diesem Willen getragen, hat der – extra für Dieselfragen eingerichtete – VIa-Zivilsenat ein Urteil mit klaren Vorgaben gefällt. Diese sollen ein Gerichts-Ping-Pong verhindern, also dass unterinstanzliche Gerichte neue Rechtsfragen wieder an den BGH zurückgeben.
Die, auch von den Verbraucheranwälten geforderten, "klaren Segelanweisungen" des BGH lauten: Im Falle fahrlässig-illegaler Abschalteinrichtung ist erstens "stets (…), ein Schadensersatz in Höhe von wenigstens 5 Prozent und höchstens 15 Prozent des gezahlten Kaufpreises zu gewähren." Und zwar zweitens "ohne, dass das Vorhandensein eines Schadens als solches mittels eines Sachverständigengutachtens zu klären wäre oder durch ein Sachverständigengutachten in Frage gestellt werden könnte." Drittens müssen Vorteile durch lange Nutzung des Fahrzeugs nach allgemeinen Grundsätzen angerechnet werden.
Warum eigentlich 5 bis 15 Prozent?
Mit der Prozentspanne sollen die Kunden für die mögliche Betriebsuntersagung der Autos entschädigt werden. Die Prozentspanne begründete die Vorsitzende Richterin Dr. Eva Menges nicht. Der Wert scheint – jedenfalls ohne Kenntnis der noch nicht veröffentlichten Urteilsgründe – aus der Luft gegriffen. Denn im Zeitpunkt des Kauferwerbs konnte ja nicht vorhergesehen werden, wie wahrscheinlich ein behördliches Einschreiten mit dem Ergebnis "Stilllegung des Fahrzeugs" ist. Letztlich müsste der Prozentsatz von der Frage abhängen, wie rechtstreu sich Aufsichtsbehörden verhalten. Sind sie streng, müsste der Prozentsatz hoch ausfallen, da dann die Wahrscheinlichkeit der Betriebsuntersagung steigt. Sind sie wie in Deutschland das Kraftfahrtbundesamt (KBA) weitestgehend untätig, nämlich der verlängerter Arm der Automobilindustrie, müsste der Prozentsatz niedriger sein, da eine behördliche Untersagung so gut wie ausgeschlossen ist.
Doch da sind noch die Gerichte, die unabhängig vom KBA zu dem Ergebnis kommen, dass Abschalteinrichtungen, die bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen die Abgasreinigung ausschalten und die Gesundheit der Bevölkerung schädigen, welch Überraschung, illegal sind. So gesehen ist das Risiko der Betriebsuntersagung auch in Deutschland weiter real, wenn etwa ein Urteil des VG Schleswig rechtskräftig wird und dann tatsächlich Autos von der Straße müssen. 5 bis 15 Prozent des Kaufpreises wären dann ein sehr geringer Betrag für Kunden, die plötzlich ohne Auto dastehen. Doch bis es so weit ist, dürften ohnehin noch Jahre vergehen. Jedenfalls ist anzuerkennen, dass der BGH durch die eindeutige Prozentspanne ein Rumgefeilsche um Prozente und Gutachterschlachten vermieden hat und damit zur Entlastung der Zivilgerichte beiträgt.
BGH kann Tatrichter nicht ersetzen
Doch eine Aufgabe konnten die BGH-Richter:innen den Tatrichtern nicht abnehmen. Und zwar die Prüfung, ob die Hersteller überhaupt fahrlässig gehandelt haben. Im deutschen Deliktsrecht gibt es - bis auf explizit geregelte Ausnahmen - keine verschuldensunabhängige Haftung. Die unterinstanzlichen Gerichte müssen also die Fahrlässigkeit prüfen. Das kann der BGH nicht für diese entscheiden. Jedenfalls noch nicht, da die Frage ihm noch nicht vorliegt.
Mehrere Oberlandesgerichte (Stuttgart, Hamm, Schleswig) haben bereits jetzt klar gemacht, von einer auch nur fahrlässig handelnden Automobilindustrie nichts wissen zu wollen. Das Argument: Da schließlich das zuständige Kraftfahrtbundesamt (KBA) die Abschalteinrichtungen genehmigt habe, hätten die Hersteller nicht erahnen können, dass das Runterdrosseln der Abgasreinigung bei 15 Grad abwärts illegal sein könnte!
Eine wenig überzeugende Argumentation. Abgesehen davon, dass das KBA nicht als unabhängige Behörde bekannt ist, gebietet eigentlich der vom Ex-Bundesverkehrsminister so geschätzte "gesunde Menschenverstand": Die Automobilhersteller wussten – das ist unstreitig –, dass ihre Abgasreinigung den überwiegenden Teil des Jahres nicht oder nur eingeschränkt funktioniert. Daher konnten sie nicht in redlicher Weise von deren Legalität ausgehen. Erst recht nicht, wenn bessere Technik zur Verfügung stand, aber aus Kostengründen nicht eingebaut wurde.
Letztes Kapitel im Dieselskandal 2.0: Der unvermeidbare Verbotsirrtum
Immerhin hat der BGH noch einmal deutlich gemacht, dass die Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums nur unter strengen Voraussetzungen möglich ist und die Autohersteller ihren fehlenden Vorsatz und die fehlende Fahrlässigkeit darlegen und beweisen müssen. Es wird spannend, wie sich nun die weiteren unterinstanzlichen Gerichte zum Thema "Verbotsirrtum" positionieren werden.
Von Rechtssicherheit kann also nach dem Urteil keine Rede sein. Daher ist auch das Frohlocken einiger Verbraucherschutzanwälte eher als Werbestrategie zu betrachten, statt als realistische Darstellung von Erfolgschancen. Auf der anderen Seite zeigen sich auch die Autohersteller, etwa die VW-Anwälte, in gewohnter Manier realitätsblind. Dort hält man trotz klar gegenläufiger Rechtsprechung sogar weiterhin an dem Standpunkt fest, dass Thermofenster legal seien.
Alte Fronten, neue Fragen – die zivilgerichtliche Klärung des Dieselskandals geht in die nächste Runde – nächste Ausfahrt hoffentlich: Rechtssicherheit.
* Ergänzte Fassung vom 28.6.23, 17:11 Uhr
BGH zur fahrlässig-illegalen Abschalteinrichtung: . In: Legal Tribune Online, 27.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52088 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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