Die katholische Kirche tut sich schwer damit, ihre Missbrauchsopfer zu entschädigen. Hier ist deutlicher Widerspruch angezeigt, damit andere Institutionen diesem Negativvorbild nicht folgen, meinen Stephan Rixen und Jörg Scheinfeld.
Sexualisierte Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, das nicht nur die großen Kirchen beschäftigt. Das belegt die jüngst veröffentlichte Studie zur sexualisierten Gewalt im Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder oder zur Verantwortung des Berliner Landesjugendamtes im Zusammenhang mit dem Helmut-Kentler-Skandal, bei dem über Jahrzehnte Minderjährige über ein deutschlandweites Netzwerk gezielt an pädokriminelle Männer vermittelt wurden. Die sog. Forum-Studie zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche und der Diakonie hat ferner verdeutlicht, dass Missbrauch nicht ausschließlich ein Thema der katholischen Kirche ist. Allerdings gibt es in der katholischen Kirche problematische Entwicklungen bei der finanziellen Entschädigung von Betroffenen sexualisierter Gewalt.
So sprach sich im Oktober 2023 etwa der Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer gegen außergerichtliche Vergleiche mit Betroffenen sexualisierter Gewalt aus. Seine Begründung: "Das halte ich für den falschen Weg, weil es etwas von Mauschelei hat." Er verwies darauf, dass ihm "eine unabhängige dritte Instanz" fehle. Ebenfalls unter Hinweis auf das Fehlen einer unabhängigen dritten Instanz lehnte kurz darauf das Erzbistum Paderborn Vergleichsverhandlungen ab. Dem tat es, wie jüngst bekannt wurde, der Trierer Bischof Stephan Ackermann gleich, obwohl mehrere Betroffene Klagen angekündigt hatten. Alle drei genannten Bistümer, auch die Bistümer Speyer und Mainz, machten zudem deutlich, dass sie die Verfahren der "Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistungen" (UKA) für vorzugswürdig und ausreichend halten. Diese Kommission wurde im Jahr 2021 auf Beschluss der deutschen Bischöfe eingerichtet, weitere katholische Einrichtungen haben sich seitdem angeschlossen. Die UKA nimmt über Umwege Anträge von Betroffenen sexuellen Missbrauchs auf und kann Auszahlungen anweisen. Diese UKA – und nicht etwa ordentliche staatliche Gerichte – wünschen sich die Bischöfe als "unabhängige" dritte Instanz.
Anfang des Jahres bemühte das Bistum Aachen das "Argument" der "neutralen Instanz" und stützte darauf sogar das Erheben der Verjährungseinrede. Der Aachener Oberhirte Helmut Dieser erläuterte seine – sehr wahrscheinlich ohnehin treuwidrig erhobene – Verjährungseinrede recht eigenwillig: "Wir nutzen ein Recht, das ein Zivilprozess jedem bietet, um mit den Betroffenen mit Hilfe eines Mediationsrichters einen anderen Weg gehen zu können."
Aufbürdung von Klageverfahren
In der Gesamtschau drängt sich der Eindruck auf, dass sich die deutschen Bischöfe darauf verständigt haben, außergerichtliche Vergleichsverhandlungen abzulehnen und so in der Konsequenz den von sexualisierter Gewalt Betroffenen Klageverfahren mit einem hohen Geld-, Zeit- und Kraftaufwand aufzubürden. Spekulieren sie darauf, dass nur wenige Betroffene ein anstrengendes und aufwühlendes Gerichtsverfahren auf sich nehmen?
Wenn der Aachener Bischof Dieser meint, er nutze ein Recht, das die Zivilprozessordnung vorsehe, ist das zwar grundsätzlich richtig; und darüber hinaus steht es jeder Partei in einem Zivilprozess grundsätzlich frei, sich auf außergerichtliche Verhandlungen einzulassen oder nicht. Ausnahmsweise kann sich aber aus dem Grundsatz von Treu und Glauben sehr wohl sogar eine Pflicht zum Verhandeln ergeben. Deutlich ist der konzertierten Aktion der Bischöfe entgegenzutreten, außergerichtliche Vergleichsverhandlungen als "Mauschelei" schlechtzureden. Das Gegenteil ist richtig. Das Bundesverfassungsgericht sagt klipp und klar: "Eine zunächst streitige Problemlage durch eine einverständliche Lösung zu bewältigen, ist auch in einem Rechtsstaat grundsätzlich vorzugswürdig gegenüber einer richterlichen Streitentscheidung."
Bischöfe, die etwas anderes sagen, weil es ihnen von willfährigen Kirchenjuristen und kirchennahen Anwälten eingeredet wurde – deren jahrzehntelange Mitverantwortung für die legal verpackte Demütigung von Betroffenen wird noch zu wenig problematisiert –, Bischöfe, die so reden, lassen es nicht nur in bemerkenswerter Weise an Respekt gegenüber dem höchsten deutschen Gericht vermissen. Sie lehnen zugleich ein wesentliches Erkennungszeichen des Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz, GG) ab, nämlich den Vorrang mediatorisch-konzilianter Rechtsfindung. Das ist im Hinblick auf die Rechtstreue, der die katholischen Bistümer als Körperschaften des öffentlichen Rechts im Hinblick auf fundamentale Rechtsprinzipien wie das Rechtsstaatsprinzip unterliegen, höchst bedenklich.
Kirchenrecht: Vorrang hat außergerichtliche Streitbeilegung
Das Verweigern außergerichtlicher Verhandlungen ist in den Fällen klerikaler Sexualstraftaten, die viele Bistümer in der Vergangenheit zu vertuschen bestrebt waren, als treuwidrig (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB) zu qualifizieren. Dies folgt schon aus dem katholischen Kirchenrecht (Codex Iuris Canonici – CIC), das der außergerichtlichen Streitbeilegung den Vorrang einräumt:
Canon 1446 — § 1. Alle Gläubigen, vor allem aber die Bischöfe, sollen eifrig bemüht sein, daß Rechtsstreitigkeiten im Gottesvolk ohne Beeinträchtigung der Gerechtigkeit nach Möglichkeit vermieden und baldmöglichst friedlich beigelegt werden.
Unter der Überschrift "Abwendung von Gerichtsverfahren" heißt es zudem:
Canon 1713 — Zur Vermeidung gerichtlicher Streitigkeiten ist es zweckmäßig, einen Vergleich, d. h. eine gütliche Beilegung herbeizuführen; der Rechtsstreit kann auch einem oder mehreren Schiedsrichtern übertragen werden.
Die Kirche verhält sich widersprüchlich im Sinne des § 242 BGB, wenn sie außergerichtliches Verhandeln für den eigenen (kirchlichen) Rechtskreis verlangt, es aber ablehnt zu verhandeln, wenn es um Rechtsstreitigkeiten im staatlichen Rechtskreis geht – zumal die Streitigkeiten ihren Ursprung in der Verantwortungssphäre der Kirche haben. Zur Verdeutlichung: Wenn eine Person, die in der katholischen Kirche getauft wurde und somit nach kirchlichem Selbstverständnis unabänderbar zum Volk Gottes gehört (canon 204 § 1 CIC), einen kircheninternen Rechtsstreit führen müsste, dürfte sie sich auf den kirchenrechtlichen Vorrang außergerichtlicher Streitbeilegung berufen. Das soll aber nicht mehr gelten, wenn es um einen rechtlichen Konflikt geht, der dem staatlichen Rechtskreis zugeordnet ist, obgleich sich dieselben Parteien gegenüberstehen.
Richtigerweise gilt der Vorrang außergerichtlicher Streitbeilegung auch hier: Den von sexualisierter Gewalt Betroffenen würde ansonsten die Chance genommen, sich vor erwartbaren Traumatisierungen zu schützen, die in einem öffentlichen Gerichtsverfahren vor einem staatlichen Gericht leicht eintreten können. Die außergerichtliche Streitbeilegung hilft, solche (Re-)Traumatisierungen zu vermeiden.
Dies stand den Bischöfen im Jahr 2011 offenbar noch vor Augen, denn in einer Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz war zu lesen: "Um Opfer nicht auf einen möglicherweise langwierigen und kostspieligen Rechtsweg zu verweisen, soll bei nicht verjährten Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen von den jeweils betroffenen kirchlichen Körperschaften eine außergerichtliche Einigung mit den Anspruchstellern angestrebt werden, gegebenenfalls mit Methoden der außergerichtlichen Streitbeilegung (z. B. Mediation)." Auch dies entlarvt die nunmehr erhobene Mauschelei-These als taktisch motiviert.
UKA zahlt nicht auf rechtliche Schuld der Kirche
Darüber hinaus verfängt der unisono herangezogene Verweis auf das UKA-Verfahren nicht, sondern bietet den untauglichen Versuch, das Mitwirken einer unabhängigen dritten Instanz vorzugeben:
Die UKA ist kein eigenständiger Rechtsträger, sondern eine vorbereitende, vom Verband der Diözesen Deutschlands, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, beauftragte Stelle, die den Bistümern (= Diözesen) lediglich auf der Basis von Sachverhaltsermittlungen, die die Bistümer selbst vorgenommen haben, Empfehlungen über die Zahlung freiwilliger Anerkennungsleistungen gibt. Diese Geldleistungen werden also nicht auf eine rechtliche Schuld des jeweiligen Bistums gegenüber dem jeweiligen Betroffenen sexualisierter Gewalt gezahlt. Im Gegenteil geht es ausdrücklich nicht um eine rechtliche Verpflichtung der Kirche, sondern darum, dass aus Anlass von Taten, die im kirchlichen Raum geschehen sind, mildtätige Zahlungen geleistet werden, ohne dass relevant wird, wie die Täter in der Institution, nämlich mangels effektiver Aufsicht, überhaupt Täter werden konnten. Mit anderen Worten: Finanziell anerkannt – nicht entschädigt – wird etwas, mit dem die verfasste Kirche in der Logik des UKA-Verfahren von Rechts wegen nichts zu tun hat.
Es ist bezeichnend, dass die kirchlichen Leistungen für Betroffene, rechtlich betrachtet, freiwillige Leistungen sind: Almosen. Die Kirche behandelt die Betroffenen wie Bittsteller und verweigert ihnen so die Anerkennung als Rechtspersonen. Was die Betroffenen erlitten haben, wird zum bedauerlichen Widerfahrnis umdeklariert, statt zuzugeben, um was es geht: Um ein gigantisches Organisationsverschulden, in dem Sorgfalts- und Aufsichtspflichten bis über die Grenze der bewussten Rechtsblindheit hinaus missachtet wurden. Was innerkirchlich "Anerkennungsleistung" genannt wird, ist keine rechtlich verbindliche Anerkennung des erlittenen Unrechts – eine Begriffsverwirrung, die System hat und die sicherstellt, dass die Betroffenen selbst noch beim halbherzigen Versuch der Kirche, die Tatfolgen zu lindern, Unterlegene bleiben, Rechtlose, Missachtete.
Institution Kirche ahnt ihre Verantwortung
Das zeigt sich bereits am Verfahren der UKA, in dem die Entscheidungen für die Betroffenen nicht begründet werden, die Akteneinsicht ins Leere geht, weil Aussagekräftiges in ihnen nicht enthalten ist, die Bemessung der Höhe der Anerkennungsleistungen intransparent bleibt und echter Schadensersatz nicht zugesprochen wird (Verdienstausfall, entgangener Gewinn, Haushaltsführungsschaden, Heilbehandlungskosten etc.). Vor diesem Hintergrund ist das UKA-Verfahren kein "auf Augenhöhe" mit dem (anwaltlich begleiteten) Betroffenen geführtes Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung, sondern allenfalls dessen untaugliche – und in vielfacher Hinsicht bedenkliche – Simulation.
Irgendwie ahnt die Institution "Kirche" also, dass sie unter dem Aspekt des gezielten Vertuschens, aber auch der mangelhaften Sorgfalts- und Aufsichtspflicht für die Untaten der in aller Regel klerikalen Täter verantwortlich ist, sie will es aber nicht wahrhaben. Zugleich treibt sie das schlechte Gewissen, weshalb die freiwilligen Anerkennungszahlungen geleistet werden, um Verantwortungsübernahme zu behaupten und zugleich abzustreiten. Dahinter verbirgt sich die fixe Idee, die Kirche bleibe immer heilig. Das ist natürlich Unfug im Hinblick auf die sichtbare Kirche, in der fehlbare Menschen handeln und in der Summe ihres Versagens die "strukturelle Sünde und Schuld" der Kirche als Institution begründen, wie der 2019 verstorbene frühere Richter des Bundesverfassungsgerichts Ernst-Wolfgang Böckenförde im Hinblick auf die sexualisierte Gewalt im Raum der katholischen Kirche betont hat. Aber als Schutzbehauptung, mit der sich fast alles "heilig" machen – also bagatellisieren – lässt, auch wenn es abgrundtief unheilig ist, funktioniert dieser Ungeist des verweigerten Schuldeingeständnisses immer noch, wie das UKA-Verfahren belegt.
Die Bischöfe täten gut daran, sich gegenüber den zu entschädigenden Betroffenen, die teils unvorstellbare Gewalt erlitten haben, endlich so zu verhalten, dass weiteres Leid vermieden wird, also so, wie es nicht nur Anstand und Fairness gebieten, sondern wie es neben dem staatlichen Recht ihr eigenes Kirchenrecht fordert: Bemüht Euch um friedlich-gütliche Streitbeilegung und schließt Vergleiche! Vergleiche anerkennen die Schuld der Kirche und vermeiden die vielfältigen Belastungen für Betroffene, die mit einem streitigen Verfahren verbunden sind. Bislang ködern die Bischöfe Betroffene mit dem fürsorglichen Paternalismus des UKA-Verfahrens und nutzen so die geringe Durchsetzungsmacht der Betroffenen aus. Wie können es die Bischöfe mit ihrem christlichen Gewissen vereinbaren, dass das von ihnen etablierte UKA-Verfahren die Schwäche der Schwachen ausnutzt? Welcher Bischof hat endlich den Mut zu erkennen, dass nur faire Vergleichsgespräche zwischen Betroffenen und Bistümern für mehr Gerechtigkeit sorgen?
Prof. Dr. Stephan Rixen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht mit dem Schwerpunkt Staatsrecht und Öffentliches Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln, Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs und Berater der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz.
Prof. Dr. Jörg Scheinfeld ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Medizinstrafrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtsphilosophie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Direktor des Instituts für Weltanschauungsrecht (Oberwesel)
Zu Entschädigungen für Opfer sexuellen Missbrauchs: . In: Legal Tribune Online, 08.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54064 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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