Für sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen nach § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist ein Obhutsverhältnis erforderlich. Wann dieses vorliegt, hat der BGH nun in einem Missbrauchsfall im Stiefverhältnis anhand vieler Indizien klargestellt.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat konkretisiert, wann bei Stiefvätern ein Obhutsverhältnis im Sinne von § 174 Abs. 1 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) vorliegt. Hierfür braucht es über das bloße Zusammenleben hinaus regelmäßig eine Überordnung des Stiefvaters dergestalt, dass er sich selbst als "Familienvater" sieht und dies durch das Stiefkind auch so wahrgenommen wird (Urt. v. 14.08.2024, Az. 4 StR 127/24).
Konkret geht es um den sexuellen Missbrauch mehrerer Mädchen durch ihren Stiefvater bzw. leiblichen Vater in 285 Fällen. Das Landgericht hatte den Mann insoweit wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176c Strafgesetzbuch, StGB) in Tateinheit gemäß § 52 StGB mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) in 242 Fällen, davon in sechs Fällen "im Versuch", sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176 StGB) in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 43 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt (LG Hamm, Urt. v. 07.11.2023, Az. 51 KLs - 100 Js 452/23 - 7/23).
Obhutsverhältnis muss konkret begründet werden
Dagegen richtet sich der Angeklagte mit der auf die Verletzung materiellen Rechts gerichtete Sachrüge, die in einer Vielzahl der Fälle zumindest zu einem Teilerfolg führt. Dabei ist zwischen zwei Fallgruppen zu differenzieren:
Erstens geht es in mehr als 100 Fällen um das erforderliche Obhutsverhältnis im Rahmen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen, welches das Landgericht hier nicht zweifelsfrei belegen konnte. Voraussetzung für das Obhutsverhältnis gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB war gemäß der hier maßgeblichen alten Fassung, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist.
Diesbezüglich zitiert der 4. Strafsenat umfassend die Revisionsantragsschrift des Generalbundesanwalts (GBA) und schließt sich diesen Ausführungen an. Hiernach hatte der Mann seiner Stieftochter nach jeder sexuellen Handlung Geld oder andere Geschenke angeboten, wodurch sich das Mädchen erpresst fühlte. Dies entspreche für sich genommen indes noch nicht dem Anvertrautsein dieser Stieftochter "zur Erziehung oder Betreuung in der Lebensführung" im Sinne des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Vielmehr sei ein Verhältnis erforderlich, "in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten".
Dabei müsse ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der Über- und Unterordnung im "persönlichen, allgemein menschlichen" Bereich vorliegen. Nicht ausreichend sei das bloße Zusammenleben. Der Stiefvater müsse, so der GBA weiter, im Einvernehmen der allein sorgeberechtigten Mutter nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse so übergeordnet sein, dass er sich "nach der Art eines Vaters verantwortlich fühlte und die Lebensführung der Stieftöchter überwachte und leitete, oder dass ihn zumindest die Stieftöchter als Vertrauensperson anerkannt hätten".
Im landgerichtlichen Urteil blieb jedoch unklar, mit welcher Intensität und über welche Dauer der Stiefvater die Mutter bei Erziehung und Betreuung ihrer Töchter unterstützte. Anhaltspunkte hierfür sind laut dem GBA etwa die Organisation des Tagesablaufs des Kindes durch den Stiefvater, die Überwachung des Schulbesuchs, das Kümmern um Ernährung und Hygiene, die Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten und die Hilfe im Haushalt sowie abendliches Zubettbringen und das Organisieren von Ausflügen. Auch zur faktischen Möglichkeit des Mannes, seinen Stieftöchtern gegenüber Verbote oder Erlaubnisse zu erteilen, ließe das Urteil entsprechende Feststellungen vermissen, so der GBA.
Rücktritt rechtsfehlerhaft nicht geprüft
Zweitens geht es noch um sechs weitere Fälle des versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern. Hier hätte sich das Landgericht zugunsten des Angeklagten mit einem möglichen Rücktritt (§ 24 Abs. 1 StGB) befassen müssen, so der Senat.
Laut den Feststellungen hatte der Mann insoweit seine leibliche Tochter auf ihr Bett gelegt und habe sodann "versucht", mit seinem Penis in die Scheide seiner Tochter einzudringen. Ob darin schon das unmittelbare Ansetzen (§ 22 StGB) zur Verwirklichung des Qualifikationstatbestands des § 176a Abs. 2 StGB liegt, ließ der Senat insoweit offen. Jedenfalls hätte sich das Landgericht insoweit aber mit dem Rücktrittshorizont des Angeklagten, als dessen Vorstellung nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung, befassen müssen.
Denn soweit dem Urteil "nichts zum Vorstellungsbild des Angeklagten zum Zeitpunkt seines Nichtweiterhandelns entnommen werden" könne, erscheine ein Rücktritt gemäß § 24 Abs. 1 bei dieser Sachlage nicht ausgeschlossen, so der Senat.
Der Senat hat die Sache folglich an eine andere Strafkammer zurückverwiesen. Im Übrigen wurde die Revision verworfen, sodass die Verurteilung wegen mehrerer Dutzend Missbrauchstaten Bestand hatte.
jb/LTO-Redaktion
Klarer Erziehungsauftrag gefordert: . In: Legal Tribune Online, 26.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55496 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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