Ein Strafurteil gegen Harvey Weinstein wurde in New York aufgehoben, weil Zeuginnen zu nicht angeklagten Taten gehört wurden. Wie die Rechtslage hierzu in Deutschland aussieht, erklären Dr. Simone Kämpfer, Jennifer Loeb und Dr. Lea Babucke.
Der ehemalige Filmproduzent Harvey Weinstein wurde im Jahr 2020 erstinstanzlich vom New York Supreme Court, Criminal Term wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung verurteilt. Dabei ging es konkret um zwei Fälle: eine Vergewaltigung im Jahr 2013 und eine sexuelle Nötigung im Jahr 2006.
Im Frühjahr wurde bekannt: Die "Berufung" Harvey Weinsteins – nach deutschem Verständnis eher eine Revision – gegen seine Verurteilung in New York wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung hatte Erfolg. Das New York Court of Appeals hob die Entscheidung wegen schwerer Verfahrensfehler auf, weil Zeugenaussagen und Fragen zu nicht angeklagten Taten und moralischen Verfehlungen zugelassen worden waren. Diese zusätzlichen Aussagen sollten aus Sicht der Staatsanwaltschaft ein Muster des missbräuchlichen Verhaltens von Weinstein aufzeigen und seine Neigung zu solchen Taten verdeutlichen.
Auch in Deutschland haben beide Urteile erhebliche Aufregung verursacht. Zunächst wurde die Verurteilung Weinsteins zu 23 Jahren Haft als Durchbruch und Meilenstein im Kampf gegen sexuelle Gewalt gefeiert. Nach dem Berufungsurteil konnte man lesen, die #Me-Too-Bewegung sei "gescheitert", die Justiz habe "beim Schutz der Opfer versagt", #Me-Too-Strafverfahren könnten in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen eigentlich gar nicht gewonnen werden. Es werde nun wieder sehr viel schwieriger, sich gegen Machtmissbrauch in Abhängigkeitsverhältnissen zu schützen.
Diese Befürchtungen erscheinen aus vielerlei Gründen für die deutsche #Me-Too-Bewegung, fernliegend – warum?
Was ist geschehen?
Das erstinstanzliche Gericht (New York Trial Court) hatte sogenannte Molineux-Zeuginnen zugelassen, also Zeuginnen, die zwar von sexuellen Übergriffen Weinsteins berichteten, allerdings von solchen, die nicht Gegenstand der Anklage waren (weil es sich beispielsweise um verjährte Sachverhalte oder nicht strafbares Verhalten handelte). Darin sahen vier der sieben Richterinnen und Richter des New York Court of Appeals einen Verstoß gegen die sogenannte Molineux-Regel, einem Grundsatz, der auf einem Urteil aus dem Jahr 1901 beruht. Nach dieser Regel sind Zeugenaussagen zu im Verfahren nicht angeklagten Taten nur in Ausnahmefällen zulässig. Im Weinstein-Prozess sei die Jury durch die Anhörung solcher Zeuginnen unzulässig beeinflusst worden; sie habe Beweise gewürdigt, die hier keine Rolle hätten spielen dürfen. Dies wiederum habe Weinsteins Recht auf ein faires Verfahren verletzt.
Welche Relevanz darf Zeugenaussagen zu nicht angeklagten Sachverhalten zukommen?
Im Kern ging es also um die Frage, ob Aussagen von Zeugen, die keine Hinweise zu dem angeklagten Tatgeschehen geben können, als Indizien für den Beweis der angeklagten Tat herangezogen werden dürfen. Mit anderen Worten: angeklagt ist ein Vorfall im Hotelzimmer im Jahr 2020, bezeugt durch Zeugin A. Darf ich die Zeuginnen B, C und D zu Vorfällen im Hotelzimmer aus den Jahren 2015, 2018, 2019 hören und in die Beweiswürdigung mit einbeziehen, weil sich die Tathergänge ähneln und ein wiederkehrendes Verhaltensmuster und bestimmte Neigungen aufzeigen könnten?
Die Besonderheiten des US-Jury-Systems
Dies wird in New York anders gesehen als bei uns. Warum?
Nach dem US-amerikanischen Staatsverständnis soll nicht ein Richter, sondern eine Jury aus Bürgern – unvergessen: "Die zwölf Geschworenen" – die Entscheidung über die Schuld eines Angeklagten treffen. Die Beweiserhebung – das heißt solche Beweise, die der Jury als Grundlage für ihre Entscheidung vorgeschlagen werden – ist Aufgabe von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. Die Staatsanwaltschaft tritt im US-Prozess als "reine" Anklägerin auf, das heißt nur mit Belastungsinteresse, die Verteidigung trägt als Gegenpartei Entlastendes vor. Beide haben das Ziel, die Jury von "ihrer Version der Wahrheit" zu überzeugen. Der Richter wiederum ist hier "nur" Schiedsrichter; seine Aufgabe ist es unter anderem, Beweise als zulässig zuzulassen oder eben nicht, und so für ein faires Verfahren zu sorgen. Er soll Sorge dafür tragen, dass die Laien-Jury durch eine jeweils parteiisch auftretende Staatsanwaltschaft und Verteidigung nicht unzulässig beeinflusst werden – vor diesem Hintergrund sind strenge und sehr formalistische Beweisregeln entstanden, so auch die Molineux-Regel.
Der Strafprozess in Deutschland
In Deutschland ist vieles anders. Das deutsche Strafprozessrecht vertraut auf die Objektivität und Expertise des Richters. Ihm allein obliegt die Erforschung der Wahrheit, und er entscheidet grundsätzlich, welche Beweise dafür erhoben werden. Sind aus Sicht von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zusätzliche Beweiserhebungen erforderlich, können diese entsprechende Anträge stellen, über deren Zulässigkeit das Gericht entscheidet. Im Gegensatz zum US-Strafprozess agiert die deutsche Staatsanwaltschaft dabei als neutrales Organ der Rechtspflege, sie hat also auch für den Angeklagten Entlastendes zu berücksichtigen und vorzubringen.
Berücksichtigung von "Negativ-Leumundszeugen" im deutschen Strafprozess?
Das Gericht ist verpflichtet, den Sachverhalt bestmöglich aufzuklären und dabei – mit erhöhten Sorgfaltspflichten in Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen – sämtliche in Betracht kommenden Beweismittel heranzuziehen. Und dabei steht in Deutschland – im klaren Gegensatz zur Molineux-Regel in New York – außer Frage, dass es nicht nur zulässig, sondern sogar zwingend geboten sein kann, Zeugen zu ähnlichen, nicht angeklagten Geschehnissen zu hören oder beispielsweise ein einschlägiges Vorleben indiziell zu würdigen. Und selbstverständlich – immer vorausgesetzt, die Beweise werden zulässig erhoben – kann es einen Unterschied machen und entsprechend zu berücksichtigen sein, ob jemand von einer oder von mehreren Personen bezichtigt wird, in Hotelzimmern übergriffig geworden zu sein.
Am Ende der Hauptverhandlung entscheidet das Gericht "nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung" über die Schuld des Angeklagten.
Gegenstand einer Überprüfung eines Rechtsmittelgerichts kann in Deutschland dabei nicht unmittelbar sein, ob das Gericht bestimmte Beweise hätte zulassen dürfen, sondern allein, ob die Gründe für ein Urteil nachvollziehbar und widerspruchsfrei dargelegt und andere naheliegenden Geschehensabläufe nicht übersehen wurden. Reversibel könnte ein Urteil vor diesem Hintergrund beispielsweise also sein, wenn ein Gericht eine Verurteilung allein oder maßgeblich auf vorangegangene Verurteilungen zu ähnlichen Straftaten stützen würde – eine mit Blick auf die reale Gerichtspraxis sehr unwahrscheinliche Konstellation.
Auswirkungen des New Yorker Urteils auf die #MeToo-Bewegung in Deutschland?
Hat also das Urteil des New Yorker Court of Appeals vor dem Hintergrund all dessen Auswirkungen oder Konsequenzen für die #Me-Too-Bewegung in Deutschland?
Nein. Die USA und Deutschland haben bekanntlich unterschiedliche Jurisdiktionen, in, wie oben ausführlich dargelegt, sehr unterschiedlichen Rechtssystemen, mit sehr unterschiedlichen Regeln. Schon aus diesem Grund ist nicht ersichtlich, weshalb ein Urteil aus den USA konkrete Auswirkungen auf die Gerichtspraxis in Deutschland haben sollte. Unabhängig davon: In Deutschland gibt es keine Molineux-Regel – im Gegenteil, Beweise zu "Nebengeschehen" dürfen und müssen sogar manchmal erhoben werden.
Befürchtungen, die #Me-Too-Bewegung sei wegen des New Yorker Urteils "gescheitert", sind also eher unbegründet.
Wie geht es weiter mit Weinstein?
In New York möchte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Weinstein – trotz derzeitiger Unklarheit über seinen gesundheitlichen Zustand – noch im November neu aufrollen. Laut Presseberichten sollen nicht nur die im ursprünglichen Verfahren angeklagten Taten Gegenstand des Verfahrens sein; es sollen sich auch neue / weitere Zeugen zu Aussagen bereit erklärt haben.
Molineux-Zeuginnen werden in dem neuen Prozess wohl nicht gehört werden können; das heißt aber noch lange nicht, dass dieser Prozess mit einem Freispruch enden muss. Im Gegenteil: die Staatsanwaltschaft will neue Taten anklagen und neue Zeugen präsentieren. Es könnte für Harvey Weinstein also am Ende noch schlimmer ausgehen.
Erst recht mit Blick auf ein weiteres Verfahren in Kalifornien. Hier hatte ein erstinstanzliches Gericht Weinstein im Februar 2023 zu 16 Jahren Haft verurteilt; auch hiergegen legte er Berufung ein, unter anderem mit Verweis auf das New Yorker Aufhebungsurteil. Eine Entscheidung hierüber steht noch aus – die Molineux-Regel gilt in Kalifornien jedenfalls nicht. Tatsächlich haben die amerikanischen Bundesstaaten sehr unterschiedliche prozessuale Regelungen – ein einheitliches US-Strafprozessrecht gibt es nicht. Ob Weinsteins Anwälte in Kalifornien andere Aufhebungsgründe werden ins Feld führen können, bleibt abzuwarten.
Dr. Simone Kämpfer ist Partnerin in den Bereichen White-Collar Defence und Global Investigations sowie Leiterin des Bereichs Wirtschaftsstrafrecht für die Region Central Europe bei Freshfields Bruckhaus Deringer
Jennifer Loeb ist Partnerin in den Bereichen White-Collar Defence und Global Investigations bei Freshfields Bruckhaus Deringer in Washington D.C. und im Silicon Valley
Dr. Lea Babucke ist Associate in den Bereichen White-Collar Defence und Global Investigations bei Freshfields Bruckhaus Deringer in Düsseldorf und New York
Neue Weinstein-Prozesse: . In: Legal Tribune Online, 28.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55522 (abgerufen am: 17.11.2024 )
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