Eine Frage an Thomas Fischer: Ist "Kon­f­likt­ver­tei­di­gung" legitim?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

03.10.2022

Das Gericht durch eine Flut von Befangenheits- oder Beweisanträgen zu Fehlern provozieren –  steht eine solche Verteidigung der "Gerechtigkeit" im Wege? Für Thomas Fischer kann sie auch ein rechtsstaatlicher "Akt der Gegenwehr" sein.

Verteidigung und Konflikt 

"Konflikt" ist die offenbar gewordene Form eines Interessengegensatzes. Wie jedermann weiß, ist das soziale Leben durchweg und dauerhaft eine Abfolge von zahllosen einzelnen, sich ergänzenden, oft aufeinander folgenden Konflikten, vor allem in der Integration individueller Interessen in soziale Gegebenheiten und Normen und in der Auseinandersetzung mit entgegenstehenden individuellen und kollektiven Interessen. 

Schon bei Definition des Gegenstands der "Konfliktverteidigung" sind wir mitten im streitigen Bereich, denn bekanntlich ist bereits die Frage, ob es ein Verhalten gibt, das legitimerweise diese Bezeichnung trägt, ein Teil der inhaltlichen Auseinandersetzung. Der Grund hierfür ist banal: Der Begriff als Kompositum ebenso wie seine Teile beinhalten Wertungen oder öffnen jedenfalls den Weg zu unterschiedlichen Auslegungen. "Verteidigung" bezeichnet zum einen ein konkretes Verhalten (Tun, Unterlassen, Planen, Beraten), zum anderen eine Gesamtheit von verfahrensbezogenem Rollen- und Funktionsverhalten. Wer "die Verteidigung" wichtig findet, stärken will oder ihr eine wichtige rechtsstaatliche Rolle attestiert, meint nicht das konkrete Handeln eines Strafverteidigers in einem Fall, sondern das hinter den subjektiven Rechten des Art. 6 Abs. 3 Buchst. b und c der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) stehende menschenrechtliche Prinzip. 

Konflikt im Strafprozess

Der Strafprozess ist, neben dem Krieg und dem unmittelbaren polizeilichen Zwang, die offenkundigste, sich unmittelbar erschließende Form einer Konfliktlösung, denn sie ist vollständig auf die (symbolisierte, aber stets gegenwärtige) Gewalt des Staats gestützt, der durch "Organe" – also durch am Ausgangskonflikt nicht beteiligte Funktionäre "übergeordneter", abstrakter und scheinbar neutraler Interessen – tätig wird und das beschuldigte Individuum (Beschuldigter, Angeklagter) im Grundsatz mit einer fast unbegrenzten Macht zur Gewaltanwendung bedroht: "Lebenslange Freiheitsstrafe", also vom sozialen Leben weitestgehende Ausgrenzung durch Einschließung auf engstem Raum bis zum Tod, ist die Karte, mit der das Strafrecht – in den Grenzen des Art. 103 Abs. 2 sowie der Art. 1 und 2 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 Grundgesetz (GG) – auftrumpfen kann. 

Der Beschuldigte hat "das Recht auf Verteidigung", was im Vergleich ausgesprochen wenig ist und sich nur auf einer einzigen Grundlage überhaupt als machtvoll erweisen kann – im Rahmen eines Prozesses, in dem sich der Staat an seine eigenen Regeln hält. "Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden" (Art. 20 Abs. 3 GG – Rechtsstaatsgrundsatz). Hält sich der Staat nicht an die Regeln, ist alles verloren. Das ist der Preis dafür, dass im Strafprozess nicht individuelle Interessen aufeinanderprallen und nach Maßgabe der Machtverhältnisse oder der Geschicklichkeiten ausgetragen werden. 

Beim Aushandeln zwischen prinzipiell Gleichen kommt es auf "Konfliktverteidigung" nicht an. Sie ist vielmehr selbstverständlich, da jeder Beteiligte zugleich Angreifer und Verteidiger ist. Der "Schlichter" einer vor- oder außerstaatlichen Ordnung hat als Schiedsrichter, Verhandlungsführer (Kadi, Ältester, Priester) keine höhere Macht. Daher sind auch die Regeln des Ausgleichs zunächst offen und müssen stets gleichfalls neu verhandelt werden. Anders im hoheitlichen Staat: Die Regeln sind nicht verhandelbar, die Machtpositionen eindeutig. Gericht und Beschuldigter (samt seinen "Verteidigern") sind nicht gleichgestellt, auch wenn sich Richter und Anwälte wechselseitig noch so sehr bemühen, "Kollegialität" vorzutäuschen. 

Das Gericht als Konfliktpartei

Selbstverständlich funktioniert auch dies nicht konfliktfrei: Der einzelne Richter ist stets funktionell der Staat. Dessen Autorität, Macht und Überlegenheit stehen objektiv nicht in Frage, solange nicht revolutionäre Umstände das Oberste zuunterst kehren. Hingegen kann die individuelle Persönlichkeit des Richters durchaus in Frage stehen und tut es auch nicht selten. Sie kann in schwere äußere und innere Konflikte mit Aufgaben, Rollenerwartungen, verfahrensbeteiligten Personen geraten. Sie steht in vielerlei Verpflichtungen, Zwängen, Erwartungen, die sich aus der Rolle als solcher, den beruflichen Bedingungen und ggfls. auch dem konkreten Fall ergeben. 

Die vom deutschen Strafprozessrecht vorgesehene Rolle des Richters (in der Hauptverhandlung: des Vorsitzenden) ist eine einzige Überforderung mittels seiner Vielzahl von teils evident widersprüchlichen Anforderungen, die nicht schon deshalb erfüllt werden können, weil das gesetzlich so vorgesehen ist, ebenso wie ein Richter nicht "unparteiisch" ist, weil er es sein soll, oder in kürzester Zeit unendlich viele Akte deshalb lesen und verstehen kann, weil er sonst gar nicht entscheiden könnte: Aus dem Sollen erwächst nicht ohne Weiteres ein Sein. Aus Überforderung und psychischem Stress entstehen Gefühle von Inferiorität, Aggression, Trotzreaktionen. Das "Wir können auch anders"-Syndrom ist kein Privileg der gern sprichwörtlich verhöhnten "kleinen Beamten". Es findet sich bei Staatssekretären, Richtern oberster Bundesgerichte und Leitern großer Staatsanwaltschaften gleichermaßen, ist allerdings hier wie dort keine Eigenart staatlich Bediensteter. Absurde Eitelkeiten, schwer erträgliche Selbstüberschätzung und albern überspielte Versagensangst sind bei Rechtsanwälten/Strafverteidigern gewiss nicht seltener – die freiberufliche Tätigkeit ermöglicht hier freilich allerlei Verfeinerungen. 

Es geht also nicht eigentlich um die Frage, ob im Strafprozess auf der Basis von "Konflikt" verhandelt und verteidigt werden soll oder darf. Der Strafprozess ist ein Konflikt und daher, wie der Bonner Rechtsanwalt Hans Dahs einst völlig zutreffend, aber zum Missfallen des Bundesgerichtshofs (BGH) formulierte: Kampf. Was sonst? 

Die Annahme, ein Strafgericht beuge sich wie ein väterlicher Arzt über das Leiden des Beschuldigten an der Gesellschaft und umgekehrt und schaue gutmütig einmal nach, wie man beiden helfen könne, ist eine fernliegende Romantisierung. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Formen des Verfahrens ihrer Natur und ihrem Ziel nach auf Eskalation, "Streit" oder sachferne Konfrontation ausgelegt sind oder gar, dass dies als Normalform ("Idealtypus", "Normalvorbild") anzusehen sei. 

Konfliktverteidigung

Mit dem Begriff der Konfliktverteidigung wird in der Regel ein bestimmter Inhalt verteidigungsspezifischer Tätigkeiten im Strafverfahren, vor allem – aber nicht nur – in der Hauptverhandlung beschrieben. Dabei verschwindet die stark pejorative Bedeutung/Konnotation meist hinter einer Kritik der Form, so als sei das Aufsuchen oder Eskalieren von konflikthaften Formen des Verhandelns eine besondere, über die Bindung an Inhalte hinausgehende persönliche"Ungehörigkeit" von Strafverteidigern gegenüber dem Gericht. Dies würde sich dann als erste Assoziation aufdrängen, wenn es eine Pflicht gäbe, das Gegenteil zu tun, also "konfliktfrei", zuvorkommend, nicht bedrängend, freundlich usw. aufzutreten und die Mitglieder des Gerichts nicht in Schwierigkeiten oder unter Stress zu bringen. Eine solche Pflicht des Beschuldigten oder seines Verteidigers gibt es aber ebenso wenig wie eine Pflicht des Gerichts, sich gegenüber dem Beschuldigten und dem Verteidiger besonders höflich und hilfreich zu zeigen.

Tatsächlich geht es um Umgangsformen und sprachliche Empfindsamkeiten allenfalls sekundär. Als "Konfliktverteidigung" wird von Seiten der Justiz ein Verteidigungs-Verhalten bezeichnet, das im Sinne eines strategischen, mindestens aber taktischen Plans darauf abzielt oder mindestens in Kauf nimmt, einen Prozessablauf nach den Vorstellungen des Gerichts zu erschweren oder unmöglich zu machen, namentlich indem prozessuale Rechte (Antrags-, Beweisantrags-, Beanstandungs-, Beschwerde-, Ablehnungs-, Erklärungsrechte) in einem "übermäßigen" oder prozess-destruktiven Maße "missbraucht" werden – darüber hinaus auch durch Verhaltensweisen am Rande oder jenseits der prozessualen Legalität (Eskalation von belanglosen Förmlichkeiten, Einschüchterung von Zeugen, disziplinloses, aggressives Auftreten in der Hauptverhandlung,  Vortäuschen von Verhinderungen usw.). All diese Verhaltensweisen kommen in der Praxis vor. 

Missbrauch oder Akt der Gegenwehr? 

Von Strafverteidigern werden die von Seiten der Justiz beklagten Formen der Verfahrensführung regelmäßig nicht als initiale Aggression oder "Missbrauch" rechtlicher Möglichkeiten gewertet oder beschrieben, sondern zum einen als Akte der Gegenwehr, also im Wortsinn "aktive Verteidigung", mit deren Hilfe einseitige Dominanz- und Machtbestrebungen des Gerichts zurückgewiesen werden, zum anderen als Verwirklichung eines auf Gleichberechtigung abzielenden Prozessverständnisses. Beide Aspekte sind in hohem Maß geeignet, das Selbstverständnis der Gerichtspersonen zu irritieren und einen speziellen "Konflikt im Konflikt" auszulösen. Die Bezeichnung als "Konfliktverteidigung" ist dabei nur der Ausdruck eines Grundverhältnisses der Machtverteilung, die es dem Gericht erlaubt, die Nutzung dieses speziellen Konfliktpotenzials als "Missbrauch" zu definieren, während eigene Grenzüberschreitungen regelmäßig als konstruktives Bemühen um der Sache willen gedeutet werden. 

Neben den beiden genannten Selbst-Definitionen der Konfliktverteidigung existiert zweifellos eine am ehesten dem "Missbrauchs"-Gedanken nahestehende strategische Komponente, die als "Vorne-Verteidigung", Abwehr durch Angriff, bezeichnet werden könnte: Benutzung prozessualer Formen nicht um des jeweils konkreten prozessualen Anliegens willen, sondern zur Erreichung mittelbarer Ziele. Die nächstliegende und bekannteste Methode ist das Erzeugen von ressourcenbindendem und stresserzeugendem Leerlauf, um durch so verursachten mittelbaren Druck auf das Gericht dessen Bereitschaft zu inhaltlichem Entgegenkommen herzustellen: Kaskaden von sich fortpflanzenden Befangenheitsanträgen, Ketten von Besetzungsrügen, endlose Reihen von subjektiv für unbehilflich gehaltenen Beweisanträgen, Beanstandungen, Auskunftsverlangen, ausufernde Erklärungen sind die bekanntesten Mittel. 

Ziele der Konfliktverteidigung 

Das Prinzip greift freilich schon da Platz, wo Verfahrensfehler provoziert, also etwa potenzielle Verfahrensrügen für die Revision vorbereitet werden sollen (beliebter Trick: Provokation von Anwesenheitsfehlern durch scheinbar zufällige Vermischung von Beweiserhebungen). Strategisches Ziel ist das Erreichen von Verständigungsbereitschaft im weiteren Sinn, also insbesondere Beschränkungen des Verfahrensstoffs, Vornehmen von günstigen Subsumtionsergebnissen, Verhängung milder Rechtsfolgen. All diese Ziele sind selbstverständlich legitim.  

Da die genannten Mittel jedoch solche sind, welche die Gesetzesgebundenheit und das Pflichtbewusstsein der Richter gezielt einkalkulieren und instrumentalisieren, erzeugt das fast zwangsläufig persönliche Verbitterung. Denn es handelt sich um eine klassisch "asymmetrische Kriegsführung", welcher der Staat unter der Drohung der Verfassungswidrigkeit nicht auf gleicher Ebene begegnen kann. Der einzelne Richter, in seiner Doppelrolle als Staats-Verkörperung und Person, ist gehalten, auch diesen Konflikt auszuhalten, hiervon aber oft – und absichtsvoll – überfordert. 

Dies ist der Kampfplatz, auf dem sich die Schlacht um die Konfliktverteidigung und ihre "Bekämpfung" vollzieht. Sie wird von beiden Seiten mit hohem moralischem und propagandistischem Aufwand geführt: "Gerechtigkeit" auf der einen (Justiz), "Rechtsstaatlichkeit" auf der anderen (Verteidiger) Seite als Begriffsbanner voran. Kennzeichnend ist, dass beide Seiten sich permanent im Verteidigungskampf wähnen. 

Ursachen von Konfliktverteidigung

Die Lösung dieser Auseinandersetzung mit den hergebrachten Mitteln erscheint nicht möglich. Sie wird nur, je nach gesellschaftlicher Stimmungslage, auf das Gebiet der Rechtspolitik verlagert und dort hin- und herbewegt mit dem Ziel, die formelle Grenze des "Missbrauchs" in die eine oder andere Richtung zu verschieben. Das ändert aber nichts an der Grundkonstellation. Die Behauptung, das Problem mit Hilfe normativer Formeln ("Organe der Rechtspflege"; "gemeinsame Aufgabe") lösen zu können, mag für Juristentage, Festreden und Gesetzesbegründungen taugen, ist jedoch in der Praxis aus naheliegenden Gründen wirkungslos. Hier dominieren die "Notfallkoffer", die (selbstverständlich humoristisch gemeinte) "strafschärfende Wirkung der Strafverteidigung" einerseits, die Wahl-Angebote ("Frau Vorsitzende, wir können hier zwei Tage oder zwei Jahre verhandeln") andererseits; dazwischen abundante Möglichkeiten.

Eine wesentliche Ursache für die sehr unterschiedliche Definition und Bewertung des Phänomens "Konfliktverteidigung" ist struktureller Natur: Das Gericht kann die Verteidigung jederzeit wegen "Missbrauch von Rechten" sanktionieren; die Verteidigung kann dies nicht, sondern allenfalls (weiteren) "Sand ins Getriebe" der Verfahrensherrschaft streuen. Die Gleichzeitigkeit von "Partei"- und Schiedsrichterrolle im Konflikt um die Verfahrensführung kann vom Gericht unter den Bedingungen asymmetrischer Kampfführung nicht bewältigt, die normativ unterstellte, faktisch aber fast willkürlich verschiebbare Neutralität des Gerichts kann von der Verteidigung nicht dauerhaft akzeptiert werden. Ein Vorsitzender etwa, der Zeugen erkennbar tendenziös vernimmt, Fragen anderer Beteiligter abfällig kommentiert oder als unbehelflich unterbindet oder jedes Mal eingreift, wenn bei Befragungen durch andere Beteiligte sein eigenes "Konzept" für das Verfahrensergebnis gefährdet erscheint, und offenkundig taktisch motivierte Verwirrungen auslöst, um angebliche Hörfehler, Rückfragen, Klarstellungen oder Pausennotwendigkeiten zu klären, kann ebenso wenig Anspruch auf funktionales wie persönliches Vertrauen erheben wie ein Verteidiger, der während der Vernehmung eines Opferzeugen in Abwesenheit des Angeklagten "nur zur Klarstellung" schnell mal eine Planzeichnung in Augenschein nehmen lässt und damit durch Vermischung von Beweiserhebungen einen Anwesenheitsfehler für eine Revision provoziert. 

Antwort, im Ergebnis: 

Wenn Konfliktverteidigung dasselbe bedeutet wie "Missbrauch von Verfahrensrechten", ist ihre Illegitimität dem Begriff immanent. Wenn der Begriff nur eine (einseitige) Umschreibung des Problems asymmetrischer Kampfführung ist, lässt sich das beschriebene Problem nicht durch Verschieben der Frontlinie bei Aufrechterhaltung der strategischen Lage lösen: Ob der "Missbrauchs"-Bereich bei zweimaliger oder viermaliger Beanstandung der Anordnungen des Vorsitzenden (§ 238 Abs. 2 Strafprozessordnung) beginnt, ändert am Grundsatz nichts. Vielmehr ist darüber nachzudenken, diese Ausgangslage im Grundsatz zu ändern. Die rechtspolitisch populären Tendenzen zu Vergleichs- und Verhandlungslösungen erscheinen vergiftet, wenn und solange der Seite der Angriffsführung im Verfahrensstreit zugleich die Rolle des Vergleichsvermittlers zufällt. 

Anders ausgedrückt: "Konfliktverteidigung" in ihrer pejorativen Bedeutung lässt sich, entgegen allen Appellen und Forderungskatalogen, im Regelungszusammenhang der deutschen Strafprozessordnung, also wenn das Gericht zugleich neutrale Instanz der materiellen Rechtsfindung und Quasi-Partei in der Bestimmung des Verfahrensgangs ist,  nicht verhindern, wenn man nicht die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit verletzen will. 

Deshalb ist die Frage, ob Missbrauch von (bestehenden) Rechten – welcher Beteiligter auch immer – "legitim" sei, letztlich müßig. Es gibt keine Pflicht des Bürgers, an der staatlichen Verwirklichung von Gerechtigkeit gegen ihn selbst "konstruktiv" mitzuwirken, und kein Recht des Staates, einen Mangel an selbstsanktionierender Konstruktivität zu bestrafen. Daher ist die absurde Überhöhung der angeblich "strafmildernden" Wirkung von Mitwirkungs-, Geständnis- und Reuebereitschaft individuell vielleicht verlockend, systematisch aber überaus zweifelhaft. Die Frage, ob Konfliktverteidigung legitim sei, kann somit, auf der Grundlage des geltenden Verfahrensrechts und unter der damit verbundenen Bedingung, dass im konkreten Fall jeweils allein das Gericht den Begriff definiert und verfahrensrechtliche Folgerungen hieraus zieht, nur zirkulär oder ihrerseits im Konflikt beantwortet werden. 

Anhaltspunkte für eine nicht StPO-immanente Antwort auf die Legitimitätsfrage können sich dann nur aus übergeordneten, verfassungsrechtlichen Grundsätzen ergeben (Art. 103 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 3 Bucxhst. B, c, d EMRK). In keinem Fall darf die Schwelle des "Missbrauchs" prozessual so weit abgesenkt werden, dass der Wesensgehalt des rechtlichen Gehörs verletzt oder eine nicht missbräuchliche Verteidigung nur noch eine solche ist, die dem Gericht keine Schwierigkeiten macht. 

 

Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtsanwalt in München und Rechtswissenschaftler. Er war von 2013 bis 2017 Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats am Bundesgerichtshof. 

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 03.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49787 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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