Eine Frage an Thomas Fischer: Hat sich Fried­rich Merz wegen Volks­ver­het­zung strafbar gemacht?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

01.10.2023

Nachdem Friedrich Merz eine Bevorzugung von Asylbewerbern bei der Zahnarztbehandlung behauptete, hat eine Abgeordnete der Partei Die LINKE öffentlichkeitswirksam Strafanzeige gegen den CDU-Vorsitzenden erstattet. Was ist da dran, Herr Fischer? 

Friedrich Merz, der derzeitige Vorsitzende der Volkspartei CDU, hat nicht nur vor ein paar Wochen Gillamoos für Deutschland erklärt, also eine größtenteils angesoffene bayerische Volksfestgemeinde für den Normalzustand der Mitte Europas in der Welt erklärt, sondern kürzlich auch noch die Zahnärzte, die zahnärztlichen Vereinigungen sowie die Immigranten überhaupt mit der Behauptung verstört, die so genannte Migrationskrise äußere sich darin, dass der (sinngemäß) nicht abgeschobene Asylant in Deutschland kostenfrei das Gebiss richten lasse, während der karies- und schmerzgeplagte zutreffende Staatsangehörige nebenan warten müsse. 

Mit dieser – hier im Rahmen des nach Art. 5 Abs. 1 GG zulässig interpretativ wiedergegebenen – Äußerung hat der genannte Berufspolitiker nicht nur zahlreiche ablehnende Kommentierungen einerseits sowie schulterklopfende Zustimmung andererseits von Seiten derer erzielt, die er kürzlich noch zu "halbieren" versprach, wenn man ihn nur lasse. 

Eine leibhaftige Bundestagsabgeordnete, Frau Daphne Weber, Mitglied im Bundesvorstand der Partei Die LINKE, laut eigener Homepage "tätig im Wissenschaftsbereich" und "In antifaschistischen, feministischen und antimilitaristischen Bewegungen aktiv", hat gegen Herrn Merz bei der zuständigen Staatsanwaltschaft eine Strafanzeige wegen "Volksverhetzung" erstattet. Zur Begründung soll sie, vielfachen Pressemitteilungen zufolge, mitgeteilt haben, "Herr Merz (habe) wissentlich wesentliche Fakten ausgeblendet, um geflüchteten Menschen die Schuld für soziale Probleme wie Wohnungsmangel oder unzureichende medizinische Versorgung zuzuschieben". 

Regelung

§ 130 Abs. 1 StGB lautet auszugsweise: 

(1) Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 

1) gegen (…) Teile der Bevölkerung (…) zum Hass aufstachelt (…) oder 

2) die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er (…) Teile der Bevölkerung (…) beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, 

wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft" 

Den Rest des Tatbestands mit seinen zahlreichen Varianten lasse ich hier weg, weil er meines Ermessens von vornherein nicht in Betracht kommt. 

Teil der Bevölkerung

Voraussetzung einer Strafbarkeit wäre also zunächst, dass die von Herrn Merz angesprochenen Personen ein "Teil der Bevölkerung" sind. Nach allgemeiner Ansicht und ständiger Rechtsprechung ist mit dem Begriff "Bevölkerung" nur (oder jedenfalls) die inländische, also sich in den Grenzen der Bundesrepublik aufhaltende Menschenvielzahl gemeint. Auf die Staatsangehörigkeit dieser Personen, ihre ethnische, religiöse oder sonstige Zugehörigkeit kommt es nicht an. Allerdings mag ein gewisses Maß an Dauerhaftigkeit vorausgesetzt sein: Ein Schweizer, der an einem Tag von Basel über Konstanz nach Luxemburg reist, ist nicht "deutsche Bevölkerung". 

Die Personen, die von Merz als Blockierer deutscher Zahnarzttermine adressiert wurden, sind, wie eine Nachlese ergibt, verwaltungsrechtlich nicht sehr genau identifiziert: "Abgelehnte Asylbewerber" sind nicht per se eine Gruppe der Bevölkerung, sondern allenfalls mit dem fiktiven Zusatz "die sich nach ‚Ablehnung‘ im Gebiet der BRD aufhalten". Auch dies ist allerdings eine Personenmehrheit, deren Zusammensetzung von hoher Fluktuation und Unbestimmtheit gekennzeichnet ist. Die "Teil"-Definition von Merz ist daher vage. Sie unterscheidet sich insoweit kaum von Beschreibungen wie "Politiker", "Juristen", "Polizisten" oder "Unternehmer", die nach ständiger Rechtsprechung als nicht im Sinne von § 130 Abs.1 StGB ausreichend konkretisiert anzusehen sind. 

Aufstacheln zum Hass

Das Tatbestandsmerkmal "Aufstacheln zum Hass" ist in hohem Maße normativ, d.h. von Wertungen abhängig: Sowohl der Begriff des "Aufstachelns" als auch der Begriff des "Hasses" können nicht anhand objektiver Kriterien, sondern nur im jeweiligen kommunikativen Kontext bestimmt werden. Hinzu kommt, dass beide Begriffe ersichtlich nicht unverbunden nebeneinanderstehen, sondern verbunden sind: "Aufstacheln" ist eine Tätigkeitsbeschreibung, die in keinem Fall im Zusammenhang mit positiven Emotionen (etwa: "Aufstacheln" zum Mitleid, zur Liebe, zur Verzeihung, usw.) verwendet wird, sondern eine extrem abwertende Konnotation stets schon beinhaltet. Eine rechtsdogmatisch genaue Abgrenzung zwischen "Aufstacheln zum Hass" und "Auffordern zum Hass" oder zur Umschreibung "Hass schüren" ist nicht ersichtlich. 

Was im Allgemeinen und im Besonderen ein "Hass" ist, zu welchem ein Täter des § 130 Abs. 1 StGB "aufstacheln" kann, ist meist nicht ohne Weiteres erkennbar. Der "Hass", zu dem aufgestachelt wird, muss sich nach der Tatbestandslogik objektiv nicht beim Täter, sondern beim "Aufgestachelten" finden; allerdings reicht die "Innentendenz" des Täters, einen solchen Erfolg zu erzielen (erzielen zu wollen). Anders gesagt: Auch wer selbst gar nicht "hasst", sondern z. B. nur ein paar Wählerstimmen abgreifen oder gern einmal wieder in den Schlagzeilen genannt werden möchte, kann "zum Hass aufstacheln". 

Wer öffentlich behauptet, dass die deutschen Sozialrentner mit Kfz-Eigentum den Werktätigen die Parkplätze wegnehmen, die Radiologen-Witwen in Grünwald wertvollen Wohnraum für ukrainische Kriegsdienstverweigerer blockieren oder die E-Scooter-Fahrer jeglicher ethnischen Zugehörigkeit die Regierungsarbeit in Berlin-Mitte verlangsamen, hat, so vermute ich, einen "Hass". Dieser Begriff ist hier allerdings sehr weit und umgangssprachlich gefasst. Aus der Sicht von § 130 Abs. 1 StGB und Art. 5 Abs. 1 GG äußert er eine vollkommen legitime abwertende Meinung, begeht aber keine strafbare Verhetzung. 

Die Frage, ob deutsche Menschen, also solche aus Gillamoos und nicht aus Kreuzberg, irgendwo einen Zahnarzttermin nicht erhalten, weil abgelehnte Asylbewerber die Behandlungsstühle blockieren, ist von Herrn Merz wohl in der Sache nicht belegbar und auch gar nicht beweiswürdig. Die Behauptung ist vom Sauerländer ersichtlich vor allem metaphorisch gemeint, und schließlich nimmt jeder Chinese ja dem Sauerländer jeden Tag ein bisschen Atemluft weg. Anders gesagt: Ob die Zahnärzte-Theorie des hoffnungsvollen AfD-Halbierers mittels Nachäffens stimmt, ist für den Tatbestand des § 130 Abs. 1 StGB weitgehend gleichgültig. 

Öffentlicher Friede

Der öffentliche Friede, der durch die Tat nach § 130 Abs. 1 StGB vorsätzlich (!) abstrakt "gefährdet" sein muss, ist nicht das jeweilige minimale Erregungslevel der Presse. Es geht § 130 StGB um den "inneren Frieden" im Sinne eines "friedlichen", d.h. gewalt- und willkürfreien Zusammenlebens von Bevölkerungsgruppen und -teilen, und zwar – nach an Art. 5 GG orientierter Auslegung – unter Berücksichtigung einer weitreichenden Freiheit nicht nur des Meinungs-Habens, sondern auch der Meinung-Äußerung. 

Der politisch-propagandistische Einsatz von § 130 StGB wird den tatbestandlichen Anforderungen nicht gerecht. Abwegige Meinungen zu vertreten, ist nicht verboten. Und wer eine Volkspartei mit der Parole führen möchte, dass die steuerfinanzierte Kariesbehandlung von Ausländern den deutschen Kassenpatienten sein Gebiss koste, mag das tun. Die empirisch eher rätselhafte Behauptung von Friedrich Merz ist daher nicht im Ansatz geeignet, den Tatbestand des § 130 Abs. 1 StGB zu erfüllen.  

Dass die einmal mehr übererregte Presse schon die Erstattung einer Strafanzeige als Vorabend der Katastrophe zu verkaufen versucht, hat mit einem hinreichenden Verständnis von § 130 StGB nichts zu tun. 

Antworten, im Ergebnis:

1) "Abgelehnte Asylbewerber" sind kein von § 130 Abs. 1 StGB erfasster, hinreichend konkretisierter Teil der Bevölkerung. 

2) "Aufstacheln zum Hass" ist nicht schon durch öffentliche Äußerung diskriminierender und vorurteilsvoller Tatsachenbehauptungen gegeben. 

3) Der Tatbestand der "Volkverhetzung" ist kein legitimes Instrument allgemeiner politischer Auseinandersetzung. 

4) Die gelegentliche Erstattung von Strafanzeigen wegen des Verdachts der Volksverhetzung wird in der Medienöffentlichkeit grob verzerrend bewertet.

5) Die Äußerung von grobem Unfug allein ist nicht strafbar. 

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 01.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52823 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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