BVerfG-Urteil zum zweiten Nachtragshaushalt 2021: Bedeu­tungs­ver­lust für die Schul­den­b­remse

Kommentar von Dr. Christian Rath

15.11.2023

Kein angenehmer Tag für die Bundesregierung angesichts einer so klaren juristischen Niederlage. Doch mit den neuen Maßstäben für Ausnahmen von der Schuldenbremse kann die Ampel-Koalition wohl gut leben, meint Christian Rath.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat den Zweiten Nachtragshaushalt 2021 für nichtig erklärt. Erstens habe der Bundestag zu schlecht begründet, wie die Klimaschutz-Investitionen gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie helfen sollen. Zweitens durfte im Jahr 2022 kein Nachtragshaushalt für 2021 mehr beschlossen werden.

Der dritte Punkt ist aber der entscheidende: Ausgaben müssen in dem Haushaltsjahr verbucht werden, in dem sie anfallen. Das gelte auch für ein "Sondervermögen" wie den Klimafonds, so das Gericht. Es ist also nicht möglich, in Jahren, in denen die Schuldenbremse ausgesetzt ist, Kreditermächtigungen zu verbuchen, das Geld aber erst in späteren Jahren, wenn die Schuldenbremse wieder gilt, auszugeben.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei damit die Schuldenbremse gestärkt worden. Manöver, sie zu umgehen, werden dadurch zumindest erschwert. Und das BVerfG hat gezeigt, dass es bereit ist zu intervenieren, wenn die Tricks zu frech werden. Das Gericht hat mit seinem Urteil auf jeden Fall für mehr Transparenz und mehr parlamentarische Kontrolle gesorgt. Aus demokratischer Sicht ist das gut.

Beim nächsten Mal klappt es

Aus Sicht des Haushaltsverfassungsrechts wird die Summe der Schulden der Bundesrepublik durch das heutige Urteil aber nicht strikter begrenzt als zuvor. Denn bei der Frage, was mit den zusätzlichen Schulden in einer Notlage finanziert werden darf, folgte das Gericht weitgehend der Bundesregierung. Mit zusätzlichen Schulden dürfen nicht nur die unmittelbaren Kosten der Notlage beglichen werden, sondern auch die mittelbaren. Konkret geht es hier vor allem um eine Wiederankurbelung der Wirtschaft nach einem dramatischen Ereignis wie einer Pandemie, einem Krieg oder einem Börsen-Crash.

Zwar verlangt Karlsruhe nun einen "Veranlassungszusammenhang" zwischen Notlage und Ausgaben. Aber wenn hier auch Konjunkturprogramme aller Art akzeptiert werden, dann ist dieser Zusammenhang keine hohe Hürde. Der Bundestag hat laut Urteil zwar eine Darlegungslast, aber auch einen Beurteilungsspielraum. Das Gericht will das Parlament deshalb an diesem Punkt nur eingeschränkt kontrollieren. Beim nächsten Mal wird dem Bundestag die Begründung des Zusammenhangs sicher gelingen.

Anders als von der CDU/CSU vorgeschlagen, will das BVerfG hier auch keine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchführen. Welche Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft nach einer Notlage "erforderlich" und "angemessen" sind, das soll doch lieber die Politik entscheiden. Die Richter haben hier einen realistischen Blick auf ihre wirtschaftspolitische Kompetenz und einen guten Sinn für Gewaltenteilung bewiesen.

Die Ausnahme wird zum Regelfall

In der Folge bedeutet das: Schulden müssen dann verbucht werden, wenn die Ausgaben getätigt werden. Pro Notlage muss die Ausnahmeregelung zur Schuldenbremse gem. Art. 115 Abs. 2 Satz 6 Grundgesetz (GG) dann nicht mehr zwei bis drei Jahre in Anspruch genommen werden, wie jetzt bei der Pandemie, sondern vielleicht fünf, sechs oder sieben Jahre hintereinander. Bis sich die Wirtschaft mit staatlicher Hilfe von dem disruptiven Schock erholt hat.

Die Summen für die Konjunkturprogramme, über die dann verhandelt wird, sind entsprechend niedriger, weil sie sich auf mehr Jahre verteilen, aber es muss eben wohl deutlich häufiger von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht werden.

Das entspricht nicht dem Plan der Ampel: Was sie erreichen wollte, war ja, dass alle Schulden (auch die der kommenden Jahre) in wenige Beschlüsse verpackt werden, um dann möglichst schnell die Schuldenbremse (formal) wieder einzuhalten. Diese Manöver war zwar intransparent, aber hielt zugleich die Schuldenbremse in Ehren.

Die Durchbrechung sollte die seltene Ausnahme sein. Künftig wird sie eher die Regel. Der Bundestag und auch die Bevölkerung werden sich an den Gebrauch der Ausnahmeregelung gewöhnen. Der entsprechende Parlamentsbeschluss verliert seine Warnfunktion und wird zur Routine.

In stetigen Krisenzeiten kommt es auf die Politik an

Hinzu kommt, dass die Notlagen in der jetzigen Zeit voller Zeitenwenden schnell aufeinander folgen. Erst die Pandemie, dann der Angriff auf die Ukraine, jetzt der Krieg zwischen der Hamas und Israel. Die Liste potenzieller weiterer Katastrophen ist lang.

Die Folgen der Notlagen und die sich anschließenden zulässigen schuldenfinanzierten Konjunkturprogramme überlappen und summieren sich. Das macht die Kontrolle noch schwieriger und den Gebrauch der Ausnahmeklausel des 115 Abs. 2 Satz 6 GG umso regelmäßiger. Es könnte bald ein Zustand wie bei der vormaligen Schuldenregelung erreicht sein: dass im Grundgesetz zwar eine Beschränkung steht, diese aber kaum noch eingrenzende Wirkung hat.

Diese Gewöhnung an den Durchbruch der Schuldenbremse ist natürlich nicht zwingend, sondern eine Folge von politischen Entscheidungen. Eine Partei wie die FDP, die die Haushaltsdisziplin besonders hoch hält, könnte sich dem natürlich verweigern. Die Erfahrung beim Zweiten Nachtragshaushalt 2021 zeigt aber eher, dass die FDP nur ein besonders hohes Interesse am Verschleiern des notlagenbedingten Bruchs der Haushaltsdisziplin hat.

Wie geht es weiter?

Doch die aktuelle Situation ist ein guter Test. Wie man hört, muss dem Klima- und Transformationsfonds im Haushaltsjahr 2024 eine Summe von rund 20 Milliarden zugeführt werden, damit er seine Verpflichtungen erfüllen kann. Die Bundespolitik hat nun viele Möglichkeiten: Sie kann entweder die Aufgaben des Klimafonds reduzieren oder sie kann ihm neues Kapital zuführen. Dieses neue Kapital kann entweder im normalen Haushalt gekürzt werden (etwa bei Sozialleistungen oder der Hilfe für die Ukraine) oder es können Steuern erhöht werden oder der Bundestag beschließt neue Schulden. Die Aufnahme neuer Schulden ist dabei nicht das letzte Mittel, sondern eine gleichrangige Option, stellte das Gericht klar – vorausgesetzt es geht um eine Notlage und die Beseitigung ihrer Folgen.

Die erste Reaktion der Bundesregierung zielte offensichtlich nur auf Zeitgewinn. Für den Klima- und Transformationsfonds wurde eine Haushaltssperre verhängt, ansonsten geht das Verfahren für die Aufstellung des Bundeshaushalts 2024 ungerührt weiter – so als ob im kommenden Jahr nicht 20 Milliarden Euro fehlten.

Aber vermutlich will die Koalition erstmal nur Panik und Streit vermeiden, die juristische Niederlage soll nicht durch politische Konfusion verschlimmert werden.

Die Haushaltssperre wird vermutlich bald wieder aufgehoben werden, schließlich will die Koalition ja bei der Transformation der Wirtschaft keine falschen Signale geben. Und über die Deckung der Ausgaben wird dann nächstes Jahr entschieden, in einem Nachtragshaushalt. Es ist ja noch mehr als ein Jahr Zeit dafür. Erst 2025 darf man keine Nachtragshaushalte für 2024 mehr beschließen – haben wir heute gelernt.

Zitiervorschlag

BVerfG-Urteil zum zweiten Nachtragshaushalt 2021: . In: Legal Tribune Online, 15.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53182 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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