Nord Stream 2: Sank­tionen ohne Ent­schä­d­i­gung

von Dr. Christian Rath

11.09.2020

Wenn die Nutzung der umstrittenen Gaspipeline Nord Stream 2 im Zuge von EU-Sanktionen gegen Russland unterbunden würde, müsste dafür voraussichtlich kein finanzieller Ausgleich bezahlt werden, analysiert Christian Rath

Seit dem Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny wird über politische Reaktionen gegenüber Russland diskutiert. Vor allem die Fertigstellung und Inbetriebnahme der Gas-Pipeline Nord Stream 2 scheint nicht mehr in die Zeit zu passen. Profilierte Außenpolitiker wie Norbert Röttgen (CDU) und Joschka Fischer (Grüne) haben bereits für einen Verzicht auf Nord Stream 2 plädiert. Der CSU-Vize Manfred Weber forderte zumindest einen Baustopp. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Außenminister Heiko Maas (SPD) wollen Folgen für Nord Stream 2 nicht mehr ausschließen.  

Die Nord Stream 2-Pipeline führt durch die Ostsee von Russland nach Deutschland. Von 1.200 Kilometern Doppel-Rohrleitungen sind 94 Prozent bereits auf dem Meeresgrund verlegt. Für Bau und Betrieb sind die Genehmigungen erteilt, fünf Staaten waren hieran beteiligt: Russland, Finnland, Schweden, Dänemark und Deutschland. Die deutschen Genehmigungen stammten vom Bergamt Stralsund und vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie in Hamburg.  

Zwölf Milliarden Entschädigung? 

Mit Blick auf die abgeschlossenen Genehmigungsverfahren ging die deutsche Debatte bisher überwiegend davon aus, dass ein Stopp von Nord Stream 2 den Widerruf von Genehmigungen erfordere und damit Entschädigungsansprüche auslöse. Auf den ersten Blick klingt das plausibel. Wird gemäß § 49 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) ein rechtmäßiger Verwaltungsakt widerrufen, kann daraus gemäß § 49 Abs. 6 VwVfG ein Anspruch auf Entschädigung für die "Vermögensnachteile" entstehen. Ex-Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) hat die Ansprüche bereits auf 12 Milliarden Euro geschätzt, wohl weil sich die bisherigen Baukosten circa auf diese Summe belaufen.  

Um solche Entschädigungen zu vermeiden, wurden allerdings auch alternative Optionen, Nord Stream 2 zu beenden, in den Blick genommen. So wird auf eine Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) verwiesen, die Anfang August beim Oberverwaltungsgericht Greifswald eingereicht wurde. Die DUH verlangt dabei eine Überprüfung der Betriebsgenehmigung von Nord Stream 2. Es gebe neue Erkenntnisse über die Klimafolgen von unkontrolliertem Methanaustritt aus Leitungsleckagen.  

Außerdem pocht die Bundesnetzagentur auf Einhaltung der Vorgaben der 3. EU-Gas-Richtlinie. Danach dürfen Gaslieferant und Pipeline-Betreiber nicht identisch sein ("Unbundling"). Ob es genügt, wenn die Nord Stream 2 AG einfach eine Tochter als zweite Gesellschaft gründet, ist noch offen.  

Sanktionen als Ausweg 

Erstaunlich wenig wurde bisher über den Einbezug von Nord Stream 2 in Wirtschaftssanktionen gegen Russland diskutiert. Dabei läge dies durchaus nahe. Schließlich wurde die aktuelle Pipeline-Debatte ja durch den Giftanschlag auf Nawalny ausgelöst, hinter dem viele Beobachter staatliche russische Stellen vermuten. Beweisen lässt sich dies bisher zwar nicht, doch auch die provozierend geringe Bereitschaft, einen Mordanschlag auf den wichtigsten Oppositionspolitiker aufzuklären, könnte als sanktionswürdig erachtet werden.  

Grundsätzlich sind Wirtschaftssanktionen Sache der EU, denn die EU hat nach Art. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die ausschließliche Kompetenz für die gemeinsame Handelspolitik. Erforderlich sind für Handelsbeschränkungen jeweils zwei Beschlüsse: Zuerst beschließen die EU-Staaten gemäß Art. 29 EU-Vertrag (EUV) im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einstimmig, ob es Sanktionen geben soll. Wenn ja, gestaltet der EU-Ministerrat gemäß Art. 215 AEUV die Sanktionen per Mehrheitsbeschluss aus.  

Möglich sind Sanktionen gegen Staaten (Art. 215 Abs. 1 AEUV), aber auch gegen Einzelpersonen und Unternehmen (Art. 215 Abs. 2 AEUV). Per EU-Verordnung wird festgelegt, welche Einschränkungen gegen wen verhängt werden. Anders als eine EU-Richtlinie gilt eine EU-Verordnung ohne nationale Umsetzung. Nur für ein Waffenembargo wäre noch ein nationaler Umsetzungsakt gemäß § 4 Abs 2 Außenwirtschaftsgesetz (AWG) erforderlich.  

Unter Umständen könnte Deutschland bis zu einem GASP-Beschluss auch nationale Sanktionen gegen einen Drittstaat verhängen. Laut Art. 347 AEUV scheinen die Hürden für nationale Sanktionen zwar recht hoch zu sein ("im Kriegsfall" und ähnliches). In der Staatenpraxis wird die Norm aber deutlich weiter ausgelegt, wie derzeit zum Beispiel die nationalen Sanktionen der baltischen Staaten gegen das Lukaschenko-Regime in Belarus zeigen. Auch die FDP scheint davon auszugehen, dass nationale Sanktionen rechtlich möglich sind. Anfang der Woche forderte sie im Bundestag, einen nationalen Sanktionsmechanismus gegen individuelle ausländische Verantwortliche für Menschenrechtsverletzungen einzuführen (Bundestag-DrS. 19/22112). 

Auf die nationale Sanktionskompetenz kommt es aber nicht an, weil die EU-Zuständigkeit für Wirtschaftssanktionen hier keine zusätzliche Hürde darstellt. Zum einen war es schon immer Politik der Bundesregierung, Sanktionen nur auf EU-Ebene zu beschließen. Zum anderen sind die meisten EU-Partner an Maßnahmen gegen Nord Stream 2 durchaus interessiert. Viele EU-Staaten, insbesondere in Osteuropa, haben die Pipeline durch die Ostsee immer schon abgelehnt, weil sie ihren Einfluss schmälern würde.  

Sanktionen ohne Entschädigungsanspruch 

Sanktionen gegen Russland sind für die EU auch kein Neuland. Schon 2014 hat die EU mit insgesamt fünf Verordnungen (Verordnungen Nr. 269/2014, 692/2014, 825/2014, 833/2014, 960/2014) Wirtschaftssanktionen gegen die russische Föderation und russische Einzelpersonen verhängt. Damit reagierte die EU auf den völkerrechtswidrigen Anschluss der Krim-Halbinsel sowie die Destabilisierung der Ukraine durch die Unterstützung von Separatisten im Osten des Landes. Verhängt wurden Ein- und Ausfuhr- sowie Investitionsverbote. Betroffen sind vor allem die Rüstungs- und Ölindustrie sowie der Finanzsektor. Die sanktionierten Einzelpersonen erhielten Einreisesperren und ihre Konten wurden eingefroren. Diese Sanktionen gelten heute noch.  

Bei all dem musste die EU keinen Cent Entschädigung bezahlen. Dass die russische Seite keine Entschädigung erhielt, liegt auf der Hand, diese soll durch die Sanktionen ja gerade geschädigt werden, um eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Allerdings schaden die Sanktionen nicht nur der russischen Seite, sondern auch deren europäischen Geschäftspartnern. Doch auch diese haben keinen Anspruch auf Kompensation. Weder Art. 215 AEUV noch die einzelnen Sanktions-Verordnungen sehen einen entsprechenden Anspruch vor. "Hier gilt der Grundsatz, dass jedes Unternehmen die allgemeinen Risiken eines Auslandsgeschäfts, für das sich die Bedingungen rasch ändern können, selbst trägt", erklärte damals das Bundeswirtschaftsministerium.  

In Betracht kämen Entschädigungen nur, so das Ministerium, wenn als Folge der Sanktionen Genehmigungen widerrufen werden müssten. Zu denken ist hier etwa an den Widerruf von Ausfuhrgenehmigungen nach dem AWG. Allerdings werden solche Genehmigungen in der Regel mit einem Widerrufsvorbehalt versehen, so dass kein Vertrauen und damit nach § 49 Abs 6 VwVfG auch kein Entschädigungsanspruch entstehen kann.  

Damit sind zwar die wohl vorbehaltlos erteilten Genehmigungen für Nord Stream 2 nicht vergleichbar. Allerdings fragt sich, ob dort überhaupt eine Notwendigkeit zum Widerruf der Genehmigungen besteht. Wenn die Sanktion sich darauf beschränkt, dass durch diese Pipeline kein russisches Erdgas eingeführt werden darf, dann wäre ein Betrieb der Pipeline immer noch möglich, etwa zur Einfuhr von Erdgas aus Kasachstan. Eine Entschädigung wäre dann wohl auch hier nicht geboten.  

Auch keine freiwilligen Kompensationen 

Die Staatspraxis nach Beschluss der Russland-Sanktionen 2014 zeigt, dass es auch nicht üblich ist, die Kollateral-Opfer von Wirtschaftssanktionen freiwillig zu entschädigen. So lehnte das Wirtschaftsministerium freiwillige staatliche Kompensationen ab und verwies auf allgemeine Programme zur Überwindung von Liquiditätsproblemen, etwa günstige KfW-Kredite. Im Übrigen seien die Unternehmen selbst verantwortlich. "Verluste aus konkreten Aufträgen, die infolge der Sanktionen nicht mehr abgewickelt werden können, hätte das Unternehmen durch den Abschluss einer staatlichen oder privaten Exportkreditversicherung ausschließen können", hieß es zur Begründung. 

Es gab auch kaum öffentliche Hilfen, als Russland im Herbst 2014 Gegensanktionen verhängte und die Einfuhr von Fleisch, Milchprodukten, Obst und Gemüse untersagte. Dies traf zwar auch deutsche Bauern stark. Der Ausfall des russischen Marktes konnte von den Landwirten allerdings durch den Absatz in anderen Weltregionen mehr als kompensiert werden. Es gab nur ein kleines EU-Programm zur zweitweisen privaten Einlagerung von Schweinefleisch.  

Betroffene können teilweise klagen 

Wenn es also keine Entschädigungen gibt, dann bleibt Betroffenen nur, sich zu fügen oder direkt gegen die Embargo-Maßnahmen zu klagen. Dies ist zum Beispiel möglich, wenn Einzelpersonen mit Sanktionen belegt werden. So klagte ein Geschäftsmann und früherer Judo-Trainingspartner von Wladimir Putin mit teilweisem Erfolg gegen die Sanktionen, die ab 2014 gegen ihn verhängt wurden (EuG, Urt. v. 30.11.2016; Az.: T-720/14). Auch Unternehmen, die individuell mit Sanktionen belegt wurden, können dagegen beim EU-Gericht (EuG) klagen (z.B. Urt. v. 08.07.2020; Az.: T-490/18).  

Schwieriger ist es mit der Klagebefugnis der Staaten, die von einem Embargo betroffen sind. So hatte Venezuela 2018 dagegen geklagt, dass die EU verbot, bestimmte Waffen und Waren an das Land zu liefern. Doch das EuG lehnte die Klage des Staates mangels unmittelbarer Betroffenheit ab (Urt. v. 20.09.2019; Az.: T 65/18). Die EU habe Venezuela nichts verboten, es sei nur mittelbar von den Lieferverboten betroffen. Ähnliche Probleme dürften auch Unternehmen haben, die nur mittelbar von Sanktionen gegen ihre Geschäftspartner betroffen sind.  

Investorenschutz greift nicht 

Neben dem EU-internen Rechtsschutz beim EuG bzw. EuGH ist aber auch an externe Überprüfungen zu denken. So verletzen Sanktionen zum Beispiel das Meistbegünstigungsprinzip der Welthandelsorganisation WTO. Allerdings lässt die Spruchpraxis im WTO-Streitbeilegungsmechanismus politisch motivierte Sanktionen durchaus zu, wenn sie dem ausübenden Staat erforderlich scheinen, um seine wesentlichen Sicherheitsinteressen zu verteidigen. Dabei wird den Staaten ein großzügiger Einschätzungsspielraum zugebilligt. 

Bei Investitionen im Erdgassektor ist auch an den Investitionsschutz der Europäischen Energiecharta zu denken. Allerdings hat Russland diesen Vertrag nie ratifiziert und die vorläufige Anwendung 2009 ausdrücklich beendet.  

Schließlich besteht noch das Investitionsschutzabkommen zwischen Deutschland und der russischen Föderation (als Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion) von 1989. Doch auch dieser Vertrag dürfte auf Maßnahmen, die den Betrieb von Nord Stream 2 beeinträchtigen, wohl nicht passen. Zum einen ist Deutschland nicht für Sanktionsmaßnahmen der EU verantwortlich. Zum anderen dürfte die Nord Stream 2 AG gar kein von diesem Abkommen geschützter russischer Investor sein. Wirtschaftlich wird sie zwar vollständig vom russischen Gazprom-Konzern kontrolliert, aus steuerlichen Gründen hat sie aber ihren Sitz im Schweizer Niedrigsteuerkanton Zug. Das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen der EU mit Russland, das 1997 in Kraft trat, sieht keinen klassischen Investorenschutz vor.

Auf die US-Wahl kommt es an 

Die ganze Diskussion zum Umgang mit Nord Stream 2 steht unter dem Druck der USA, die jedem Unternehmen, das sich am Bau und Betrieb der Pipeline beteiligt, Sanktionen androht. Die USA wollen so angeblich eine zu hohe Abhängigkeit Westeuropas von russischem Gas verhindern. Unterstellt wird den USA aber auch das Interesse, den Absatz eigenen Fracking-Gases zu fördern. Deutschland und die EU haben die Drohungen der USA als völkerrechtswidrig zurückgewiesen. Allerdings ist aus anderen Kontexten (z.B. Drohungen der USA gegen Geschäftspartner des Iran) bekannt, dass Unternehmen in der Regel ihr US-Geschäft nicht gefährden wollen, so dass die USA am längeren Hebel sitzen. 

Es wäre daher ein mehr oder weniger eleganter Ausweg aus diesem Dilemma, die Gaslieferungen durch Nord Stream 2 im Rahmen von EU-Sanktionen gegen Russland zu verhindern oder einzuschränken. So wäre den US-Forderungen genüge getan, ohne formell dem US-Druck nachzugeben.  

Vermutlich werden Deutschland und die EU-Staaten den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen und die Positionierung eines möglichen neuen Präsidenten Biden abwarten, bevor ernsthaft über EU-Sanktionen gegen Nord Stream 2 nachgedacht wird. 

Zitiervorschlag

Christian Rath, Nord Stream 2: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42776 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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