Vor einer Mietrechtsverhandlung am AG Celle hat ein Mann eine Frau und sich selbst erschossen. Der Richterbund fordert mehr Sicherheit, der Fall zeige, wie unberechenbar Gewalt an Gerichten sei. Der Rechnungshof hält das für übertrieben.
Unmittelbar vor dem Amtsgericht (AG) Celle hat am Donnerstagmorgen ein Mann eine Frau und anschließend sich selbst erschossen. Das bestätigten der Direktor des AG und eine Polizeisprecherin. Wie LTO erfuhr, sollten beide zu einer Verhandlung in einem Mietrechtsstreit vor dem AG erscheinen. Es ging um eine Räumungsklage, der Mann war Mieter, die Frau Vermieterin der Wohnung. "Das war eine ganz normale Mietsache", so Amtsgerichtsdirektor Dr. Dieter-Philipp Klass zu LTO. "Dem zuständigen Richter und mir liegen keine Anhaltspunkte vor, die im Vorfeld Anlass für besondere Schutzmaßnahme gegeben hätten."
Die Schüsse seien vor dem Eingang des Gerichts gefallen, der Schütze und das Opfer hätten das Gerichtsgelände noch nicht betreten, sagte der Sprecher. Der Zugang zum AG Celle sei durch einen Metalldetektorrahmen gesichert, der sei aber nicht jeden Tag in Betrieb. Für den Einsatz müsse entsprechendes Wachpersonal abgestellt werden. Bei Metalldetektorrahmen handelt es sich um Schleusen zur Personenkontrolle, wie man sie vom Flughafen kennt.
Wenn eine Richterin oder ein Richter vor einem anstehenden Verfahren einen Anlass für erhöhte Sicherheitsmaßnahmen sieht, werden die Eingangskontrollen aufgenommen. Der Vorfall am Donnerstag zeigt aber offenbar, dass es auch im Zusammenhang mit zunächst unverdächtigen Gerichtsstreitigkeiten zu Gewaltausbrüchen kommen kann.
Nach Informationen von LTO gab es in diesem Fall keine Eingangskontrolle. Allerdings hatten auch weder der Mann noch die Frau Kontakt zum Wachtmeister aufgenommen, so Klass: "Sie hatten beide noch nicht am Eingang das erforderliche Corona-Besuchsformular ausgefüllt."
Richterbund fordert mehr Kontrollen an den Gerichten
Die Sicherheitsmaßnahmen an den Gerichten sind insbesondere in Niedersachsen seit Jahren ein viel diskutiertes Thema. Nachdem der Niedersächsische Richterbund immer wieder höhere Sicherheitsstandards gefordert hatte, hat das Justizministerium 2019 einen "Aktionsplan Sicherheit" eingeführt. Der beinhalte: "In Kurzform: Mehr Personal, regionale Sicherheitsteams, neues Berufsbild, mehr Sicherheitstechnik.", so ein Sprecher des Ministeriums gegenüber LTO.
In den vergangenen zwei Jahren seien 53 neue Stellen für Justizwachtmeister geschaffen worden, es gebe deutlich mehr Kontrollen. Zudem sei in den vergangenen drei Jahren jeweils rund eine Millionen Euro für Sicherheitstechnik wie Metalldetektorrahmen, Handsonden, Gepäckscanner und Videoanlagen ausgegeben worden.
Der Vorsitzende des Niedersächsischen Richterbunds (NRB) Frank Bornemann zeigt sich dennoch besorgt: "Wir wissen bisher noch wenig über den genauen Tathergang. Man fragt sich aber natürlich schon, was passiert wäre, wenn der Täter sich entschieden hätte mit der Waffe in das Gericht hinein zu gehen."
Bornemann fordert möglichst flächendeckende Einlasskontrollen an allen Gerichten – bisher sind die vor allem an den großen Landgerichten und Gerichtszentren üblich. "Es scheitert nicht an der Technik, es scheitert am Personal", so Bornemann. " Es müssten noch deutlich mehr Justizwachtmeister und Justizwachtmeisterinnen eingesetzt werden."
Rechnungshof kritisiert überzogene Maßnahmen
Das allerdings ist umstritten. So rügte der Niedersächsische Landesrechnungshof in seinem am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht den Aktionsplan Sicherheit an Gerichten und bei den Staatsanwaltschaften. Das Justizministerium strebe tägliche anlassunabhängige Einlasskontrollen durch den Justizwachtmeisterdienst an, habe aber "die Wirtschaftlichkeit dieser Maßnahme" nicht untersucht, so der Rechnungshof.
Der maximale Aufwand flächendeckender Einlasskontrollen müsse gut begründet werden, betonte der Rechnungshof. So seien 2018 insgesamt 70 Vorkommnisse an den Amtsgerichten gemeldet worden, davon fünf tätliche Angriffe und zwei Bombendrohungen – dies lasse jedoch nicht zwingend auf einen erhöhten Bedarf für tägliche anlassunabhängige Einlasskontrollen schließen. Der Rechnungshof empfahl, die zusätzlichen Wachtmeisterstellen wieder abzubauen. Zudem sei der flankierende Einsatz privater Dienstleister zusammen mit dem Justizwachtmeisterdienst "eine gute Idee".
Die Vorschläge des Rechnungshofs stoßen allerdings in der Justiz auf Widerstand. "Ich kann die Argumentation überhaupt nicht nachvollziehen", so Bornemann. "Solche Fälle zeigen, dass Gewaltausbrüche unberechenbar sind und wir einen hohen Aufwand treiben müssen, um möglichst große Sicherheit in den Gerichten zu gewährleisten". Das Justizministerium will am Aktionsplan Sicherheit festhalten und betont, die Sicherheit in den Gerichten und Staatsanwaltschaften sei "ein besonderes Anliegen der aktuellen Landesregierung".
Spurensicherung vor Ort
Während der Mieter seine Wohnung im Gerichtsbezirk hatte, soll die Vermieterin aus Sachsen gekommen sein. Die tödlichen Schüsse wurden laut Polizei am Donnerstagmorgen in der Zeit zwischen 10.00 Uhr und 10.20 Uhr abgefeuert. Zunächst war die Lage unklar. Polizisten sperrten die Mühlenstraße, an der das Amtsgericht liegt, nach der Alarmierung weiträumig ab.
Am Mittag war die Polizei mit einem Großaufgebot am Tatort. Beamte der Spurensicherung in weißen Kitteln trafen ein. Vor dem Eingang des Backsteingebäudes hatten die Ermittler ein kleines Zelt aufgebaut. Auch etwa 20 Polizeifahrzeuge standen an der Straße.
Ob Zeugen die Schussabgabe beobachtet haben, war ebenfalls zunächst unklar. Das Gelände sei nicht überall von der Straße aus einsehbar, sagte die Polizeisprecherin. Die 70 000-Einwohner-Stadt Celle liegt etwa 40 Kilometer nordöstlich von Hannover.
Niedersachsens Justizministerin Barbara Havliza sagte: "Ich bin erschüttert und tieftraurig über diese schreckliche Tat in Celle." Das Opfer sei jäh aus dem Leben gerissen worden, ihre Trauer und Anteilnahme gelte vor allem den Hinterbliebenen, sagte die CDU-Politikerin und verwies auf die Opferhilfeeinrichtungen, die bereit stehen, um die Betroffenen zu unterstützen.
"In Gedanken bin ich auch bei den Wachtmeisterinnen und Wachtmeistern sowie den übrigen Beschäftigten des Amtsgerichts Celle. Sie mussten diese Tat zum Teil aus nächster Nähe miterleben", sagte Havliza weiter. Justiz-Staatssekretär Frank-Thomas Hett habe sich am Tatort ein Bild von der Lage gemacht. Zur Unterstützung der Beschäftigten sei das Einsatznachsorgeteam des niedersächsischen Justizvollzuges hinzugezogen worden.
Mit Material der dpa
Markus Sehl und Annelie Kaufmann, Vor Mietrechtsverhandlung in Celle: . In: Legal Tribune Online, 03.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45116 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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