Wegen der schlechten Haushaltslage will das Land Schleswig-Holstein alle Sozial- und Arbeitsgerichte schließen und an einem Standort konzentrieren. Alle Beschäftigten wurden von der Mitteilung überrascht, der Richterverband läuft Sturm.
Das Justizministerium (JM) Schleswig-Holstein will neun Gerichte in dem Flächenland an einem Standort konzentrieren. Das hat die Justizministerin Prof. Dr. Kerstin von der Decken (CDU) mitgeteilt. Geplant ist, Teile der Fachgerichtsbarkeit an einem Ort zu konzentrieren. Alle Arbeits- und Sozialgerichte in der Fläche werden dazu geschlossen und an einem noch zu bestimmenden Standort zusammengezogen.
Zudem zieht das Finanzgericht um und es soll nur noch ein Amtsgericht pro Kreis geben. Die schlechte Haushaltslage macht diese Schritte nach Angaben des Ministeriums erforderlich.
Aus für alle Arbeits- und Sozialgerichte
Bisher bestehen die insgesamt fünf Arbeitsgerichte in den Städten Flensburg, Elmshorn, Kiel, Lübeck und Neumünster plus das Landesarbeitsgericht in Kiel. Die vier Sozialgerichte sind in Itzehoe, Kiel, Lübeck und Schleswig, dort ist auch das Landessozialgericht. Jedes einzelne von ihren wird umziehen müssen nach den Plänen der Landesregierung.
Den neuen zentralen Standort für den Super-Gerichtsstandort hat die Justizministerin nicht bekannt gegeben. Kriterien für die Standortwahl für das Fachgerichtszentrum seien eine möglichst zentrale Lage in Schleswig-Holstein und verkehrstechnisch gute Erreichbarkeit, heißt es aus dem Ministerium.
Zudem ist das Finanzgericht von den Plänen umfasst: Es soll von Kiel nach Schleswig in die freiwerdenden Räumlichkeiten des derzeit im selben Gebäude befindlichen Sozialgerichts umziehen. In Schleswig sind bereits die Verwaltungsgerichte erster und zweiter Instanz ansässig – weitere verwaltungsgerichtliche Standorte gibt es im ganzen Bundesland seit jeher nicht. Zusammen mit dem Finanzgericht entsteht in der Stadt dann – in der Sprache des JM – das "erste Fachgerichtszentrum".
Das "zweite Fachgerichtszentrum" wird der künftige neue Standort aller Arbeits- und Sozialgerichte sein. Dort soll darüber hinaus ein sogenanntes Justizzentrum, das heißt nach Angaben des JM mindestens ein Verhandlungssaal, insbesondere für große Strafverfahren, integriert werden.
Keine Angabe zu den Kosten
Im Zuge der Reform der Gerichtsstrukturen würden bei der Staatsanwaltschaft 25 neue Planstellen bereitgestellt. Die Behörde sei innerhalb der Justiz derzeit am stärksten belastet, so die Ministerin. Die Strukturen müssten angesichts der Haushaltslage verschlankt und für die Zukunft effizienter aufgestellt werden. "Es besteht bei den Gerichtsgebäuden ein erheblicher Sanierungsstau, während es gleichzeitig immer schwieriger wird, die teilweise sehr kleinen Organisationseinheiten personell aufrechtzuerhalten", so die Ministerin.
Wie hoch die Kosten für die Umzüge und die Einsparungen sein werden, hat das JM nicht bekannt gegeben. Die Landesregierung hatte am Dienstag den Haushalt für das kommende Jahr beschlossen und mitgeteilt, dass eine Lücke von rund 580 Millionen Euro zu schließen sei.
Mitarbeitende wurden überrascht
Von den Maßnahmen sind rund 120 Richter:innen bei den Arbeits- und Sozialgerichten und etwa 120 Beschäftigte an den Gerichten betroffen. Von den Plänen wurden alle überrascht, auch Mitarbeitendenvertretungen oder Gewerkschaften sind nach LTO-Informationen nicht einbezogen worden. Über eine E-Mail haben sie am Dienstagnachmittag von den Absichten erfahren.
"Diese Vorgehensweise lässt uns völlig fassungslos zurück", erklärte die Vorsitzende des Schleswig-Holsteinischen Richterverbandes, Dr. Christine Schmehl. "Mehrere Hundert Beschäftigte von insgesamt zehn betroffenen Fachgerichten unangekündigt und ohne jeden Dialog quer durchs ganze Land versetzen zu wollen, haben wir bislang in Schleswig-Holstein für unvorstellbar gehalten. Wie kann man über die Köpfe aller Betroffenen hinweg einfach so am grünen Tisch derart weitreichende Veränderungen beschließen? Diese Kommunikationsweise erschüttert das Vertrauen aller Justizbeschäftigten nachhaltig und entspricht nicht dem 21. Jahrhundert, sondern der Kaiserzeit." Gleichzeitig den Bürger:innen ihren ortsnahen Zugang zu den wichtigen Sozial- und Arbeitsgerichten zu nehmen, sei ein Handstreich, wie er im Buche steht.
Das sieht auch Heiko Siebel-Huffmann so, Vorsitzender Richter am Landessozialgericht und Landesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen Schleswig-Holstein. "Die Mitarbeitenden sind entsetzt. Zwar kann einiges über Homeoffice und Videoverhandlungen kompensiert werden, doch die Reform wird für viele Beschäftigte mit erheblich mehr Fahrzeit zur Arbeit einhergehen". Auch für die Richterschaft sieht er große Nachteile: "Der informelle Dialog, der Austausch über unsere Fälle – das sind für die Rechtsprechung wichtige Punkte in Hinblick auf die Qualität der Rechtsprechung", so der Richter. "Die Menschen streiten zwar weniger und sowohl an den Arbeits- als auch an den Sozialgerichten sinken die Eingangszahlen", sagt Siebel-Huffmann gegenüber LTO. Dennoch sei diese Entwicklung schlecht für die Bürger:innen, die sich an die Gerichte wenden wollen und dafür künftig weite Wege auf sich nehmen müssten. Dazu Siebel-Huffmann: "Das ist in der Fläche der größte Kahlschlag, den wir je erlebt haben". Schleswig-Holstein werde damit das einzige Flächenland neben dem Saarland, das nur an einem Standort ein Arbeits- und Sozialgericht haben wird.
Nach Angaben des Richterbunds Schleswig-Holstein sollen die Maßnahmen bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr 2026 vollzogen sein.
Anwalt- und Notarverein zeigt sich "entsetzt"*
Auch die Schleswig-Holsteinische Anwaltschaft zeigte sich "entsetzt über die Einsparvorschläge der Landesregierung". Der Vorschlag […] gehe an der Lebenswirklichkeit im Flächenstaat Schleswig-Holstein völlig vorbei. "Die Bürger haben ein Anrecht darauf, Gerichte in erreichbarer Nähe zu haben und diese ohne großen Aufwand aufsuchen zu können. Hier den vermeintlichen Sparstift anzusetzen, wird dem Ansehen des Rechtsstaates in Schleswig-Holstein nachhaltig schaden", teilte Gerrit Koch, Rechtsanwalt und Notar sowie Vorsitzender des Schleswig-Holsteinischen Anwalt- und Notarverbandes mit.
"Der Verweis der Ministerin, dass es ja mit dem einen Verwaltungsgericht in Schleswig bereits ein praktiziertes Modell gebe, macht uns besonders hellhörig", so Koch weiter. "Wenn es irgendwo in der Gerichtslandschaft Schleswig-Holstein bislang überhaupt nicht klappt, dann ist es die Verwaltungsgerichtsbarkeit", es sei ein Misserfolgsmodell.
Mit sehr großem Befremden nehme die Anwaltschaft Schleswig-Holstein zur Kenntnis, "dass niemand in der Landesregierung es bislang für richtig und wichtig erachtet hat, uns in die Entscheidungsfindung bzw. Diskussion mit einzubinden", so Koch. "Noch vor zwei Wochen saßen die Vorsitzenden der örtlichen Anwaltvereine mit der Justizministerin zusammen. Mit keinem Wort wurde über die geplante Schließung von Gerichtsstandorten gesprochen, obwohl die Pläne ja wohl schon längst hausintern vorlagen." Der Rechtsstaat sei ein hohes Gut. Er koste Geld, das aber gut angelegt sei. Dazu Koch: "Wer hier spart, erweist dem Rechtsstaat einen Bärendienst."
BRAK: "rechtsstaatsfeindliche Sparmaßnahmen"**
Am Donnerstag meldete sich auch die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) zu den Vorgängen im hohen Norden: Nach Auffassung der Kammer werde mit den Plänen "am falschen Ende gespart". "Scharf" kritisiert die BRAK den Umstand, "dass die Landesregierung vor der Entscheidung nicht das Gespräch mit der Anwaltschaft gesucht hat". Anwältin Leonora Holling, Schatzmeisterin der BRAK und Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sicherung des Rechtsstaates äußerte: “Das werden wir Schleswig-Holstein so nicht durchgehen lassen! Denn die Anwaltschaft ist dem Rechtsstaat auf besondere Weise verpflichtet. Als Organe der Rechtspflege sind wir berufen, unseren freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat zu schützen und zu verteidigen. Auch gegen rechtsstaatsfeindliche Sparmaßnahmen und Abschaffung von Gerichtsstandorten.”
Ebenso entsetzt ist der Präsident der Schleswig-Holsteinischen Rechtsanwaltskammer, Rechtsanwalt und Notar a.D. Jürgen Doege. Auch ihm waren die Pläne unbekannt: "Ich bin völlig überrascht und sehr befremdet, insbesondere auch darüber, dass unsere Kammer nicht vorab angehört wurde. Die Gerichtsbarkeit kann kein Profitcenter sein und der Abbau von Gerichten, die insbesondere für einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger von Bedeutung sind, wird dazu führen, dass die Politikverdrossenheit weiter zunimmt."
*Absatz eingefügt am 25.9.24, 17.08h red tap
** Absatz eingefügt am 26.09.24, 12.54h red tap
Konzentration der Fachgerichte an einem Standort: . In: Legal Tribune Online, 25.09.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55498 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag