Staatsanwaltschaft prüft neu: Darum könnte Berlin die "Letzte Gene­ra­tion" als kri­mi­nelle Ver­ei­ni­gung ein­stufen

Ein internes Justizgutachten zeigt, dass die Klimaaktivisten in Berlin der Einstufung als "kriminelle Vereinigung" zunächst nur knapp entgangen sind. Es legt nahe, welche Aktionen die Justiz künftig genauer beobachten wird.

In Berlin beschmierten Klimaaktivisten mehrmals das Brandenburger Tor mit Farbe, zuletzt traf es Weihnachtsbäume vor dem Bundesrat und vor einem Shoppingcenter im Stadtzentrum. Vor Ende des Protestjahres 2023 haben die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" ihre Aktionen in der Hauptstadt verstärkt. Symbolträchtige Aktionen mit erheblichem finanziellem Schaden, laut RBB 115.000 Euro für die Reinigung des Brandenburger Tors. Die Berliner Generalstaatsanwältin hat auch deshalb von ihren Justizbeamten eine neue Prüfung angefordert.  

Ist die "Letzte Generation" eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 Strafgesetzbuch (StGB), deren Mitgliedern eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren droht? Eine Frage, die bisher noch nicht von einem Gericht final geklärt ist. Staatsanwaltschaften, Gerichte, Rechtswissenschaftler ringen um eine Einschätzung. 

Das Amtsgericht und Landgericht München I sowie das Landgericht Potsdam sahen den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung. Die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg hatte dazu im Sommer 2023 ein amtliches Gutachten erstellen lassen. Die Süddeutsche Zeitung betonte in ihrem Bericht vor allem das Ergebnis des internen Gutachtens, wonach die Aktionen nicht für die Annahme einer "kriminelle Vereinigung" ausreichten. Doch so eindeutig wie teilweise berichtet, liest sich das Gutachten gar nicht, das LTO vorliegt.  

Klare Einschätzung aus Berlin – oder doch nicht? 

Die Süddeutsche Zeitung berichtete seinerzeit, dass die Einstufung der "Letzten Generation" als kriminelle Vereinigung laut Gutachten "nicht überzeugend" sei. Diese Bewertung findet sich zwar in dem Gutachten, doch bezieht sie sich konkret nur auf die Begründung des Landgerichts Potsdam. Sie lautet: "Die Entscheidung des Landgerichts Potsdam erscheint jedoch mangels erkennbarer Tatbestandsprüfung und geringer Begründungstiefe nicht überzeugend." Nicht überzeugend soll also die konkrete Prüfungs- und Begründungsarbeit des Gerichts ausgefallen sein. Nicht beantwortet ist damit für die Berliner Beamten die allgemeine Rechtsfrage: Ist die "Letzte Generation" eine kriminelle Vereinigung? Die Entscheidung des Amtsgerichts München bewertet das Gutachten im Übrigen deutlich vorsichtiger: "Die ebenfalls einen Anfangsverdacht nach § 129 StGB bejahende Entscheidung des Amtsgerichts München, die eine vertiefte Auseinandersetzung mit den tatbestandlichen Voraussetzungen nach § 129 StGB vornimmt, begegnet zwar nicht unerheblichen fachlichen Vorbehalten, erscheint aber gleichwohl nicht unvertretbar." Die allgemeine Rechtsfrage lasse sich "nicht eindeutig beantworten". 

Und so zeigt sich: Das Ergebnis hätte auch schon im Sommer anders ausfallen können. Wer das Gutachten vollständig liest, kann zahlreiche Anhaltspunkte finden, warum die Gruppe der Einstufung knapp entgangen ist. Es sind Aspekte, die die Staatsanwaltschaft in ihrem neuen Gutachten sicherlich genau prüfen wird. Ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft hatte bislang betont, dass die Behörde nicht von einem Anfangsverdacht ausgehe.  

Die Lage ist dynamisch, es kommen ständig neue Protestaktionen und -formen hinzu, Klebeblockaden nehmen zu und wieder ab, der Straftatenkatalog der Gruppe wächst. Das Sommer-Gutachten der Berliner Justiz fordert deshalb die Entwicklungen fortwährend zu beobachten und stetig neu zu bewerten. 

Eine Frage der Erheblichkeit  

Bei der Frage, ob die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" als kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB einzustufen sind, handelt es sich um eine Art strafrechtliche Zusatzfrage. Denn Woche für Woche werden bereits Klimaaktivisten vor deutschen Strafgerichten wegen ohnehin strafbarer Protestaktionen verfolgt, etwa wegen Nötigung bei Straßenblockaden, Widerstand gegen die Polizeibeamte, Sachbeschädigung durch Sprühfarbe oder Öl. Der Vorwurf der kriminellen Vereinigung käme "on top" dazu. Es geht darum, auch Vorbereitung, Unterstützung und Planung von Protestaktionen zu bestrafen. Die Konsequenzen für Mitglieder wären erheblich, da sie dann unabhängig von einer konkreten Teilnahme an den Aktionen bestraft werden könnten. Außerdem eröffnet der Verdacht den Ermittler den Einsatz von Überwachungsmaßnahmen, ein beliebtes Mittel, um eine Gruppierung zu durchleuchten. 

Für die Annahme einer kriminellen Vereinigung müssen u.a. zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Die Straftaten müssen erstens prägend für die Gruppe sein, zweitens muss von ihnen eine Art organisierte Gefährlichkeit für die öffentliche Sicherheit ausgehen. Und genau dies dürfte laut Gutachten zum Knackpunkt werden: Es bezweifelt, dass von den Aktivisten eine "erhebliche Gefährdung für die öffentliche Sicherheit" ausgeht. Dafür könnte maßgebend sein, ob Straftaten das Vorgehen der Gruppe prägen. Das hatten sowohl Amts- als auch Landgericht München angenommen.  

Das Berliner Justiz-Gutachten ist von der bayerischen Einschätzung aber gar nicht weit entfernt. "In der Gesamtschau erscheint es daher vertretbar, eine Hauptausrichtung der 'Letzten Generation' auf die Begehung von Straftaten anzunehmen", heißt es dort. Es erscheine nicht unplausibel, die fortwährende Begehung von Straftaten als "prägendes Merkmal der Bewegung" anzunehmen. Doch wann erreichen die Taten das Gewicht, die öffentliche Sicherheit erheblich zu gefährden?  

In den Worten des Bundesgerichtshofs von 1995 ist das der Fall, wenn die Organisation ein "Klima der Angst" schafft, er bejahte das damals in Bezug auf rechtsextremistische Sprühaktionen. Die Berliner Justizbeamten nehmen an, dass so eine Einschüchterungswirkung von der Letzten Generation nicht ausgeht. Aber sie sehen Anzeichen für Entwicklungen, die schnell zu einer anderen Bewertung führen könnten:  

  • Große Zahl gleichzeitiger Straßenblockaden als Gefahr für Stadtverkehr? 

Das Gutachten verzeichnet für den Zeitraum von Mitte April bis Mitte Mai 2023 eine "massive Verstärkung der Protestformen in quantitativer und qualitativer Hinsicht". In diesem Monat habe die "Letzte Generation" bis zu 40 gleichzeitige Straßenblockaden im Berufsverkehr organisiert. Die Gruppe hatte angekündigt, die Hauptstadt lahmlegen zu wollen. Die Beamten folgern: Falls weite Teile der Infrastruktur durch Blockaden nicht mehr funktionierten, dürfte dies das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung beeinträchtigen. Die Erheblichkeitsschwelle wäre dann überschritten. 

  • Neue hartnäckige Klebstoffe im Einsatz 

Die Aktivisten setzten außerdem neue Klebstoffe ein, etwa ein Sand-Klebstoff-Gemisch bzw. einen Zwei-Phase-Verbundklebstoff. Dadurch verzögerten sich die Blockaden erheblich, auf bis zu acht Stunden, heißt es im Gutachten. Wegen der neuen Klebetechnik sei es häufiger nötig geworden die Fahrbahn aufzuschneiden, so das Gutachten. Bei Durchsuchungen nach der Weihnachtsbaumsprühaktion Ende 2023 fand die Polizei bei Aktivisten unter anderem neben Klebstoff auch Quarzsandvorräte. 

  • Fahrzeug-Barrieren statt Sitzblockade 

Aufmerksam hat die Behörde auch den Einsatz von Fahrzeugen, meist Mietautos, als Blockademittel registriert. Wer ein Auto auf einer Fahrbahn parkt, um diese zu blockieren, macht sich eindeutig und unstreitig wegen Nötigung strafbar. Ein rechtlicher Unterschied zur reinen Sitzblockade, dort braucht es den Rückgriff auf die sogenannte Zweite-Reihe-Rechtsprechung

  • Gefahr für Rettungseinsätze 

Aus Sicht der Beamten spricht für eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit, dass durch die Straßenblockaden verstärkt Einsätze der Feuerwehr und der Rettungsdienste behindert wurden. Zwischen Juni 2022 und Mai 2023 sollen das 84 Fälle gewesen sein. Ob das auch Folgen für Patienten hatte, werde statistisch nicht erfasst bzw. lasse sich nicht darstellen. Die Feuerwehr weist aber auf einen Kaskadeneffekt hin: Wenn ein Rettungswagen im Stau steht, fehlt er für andere Einsätze.  Andere Einsatzfahrzeuge müssen dann längere Wege in Kauf nehmen, um in seinem Einsatzgebiet die Lücke zu füllen. Nicht erwähnt wird in dem Gutachten, dass die Klimaaktivisten bei ihren Straßenblockaden in der Regel auch Rettungswege vorgesehen hatten. 

  • Eindruck einer ohnmächtigen Staatsgewalt 

Die zahlreichen und hartnäckigen Straßenblockaden erschienen geeignet, bei der Bevölkerung den Eindruck entstehen zu lassen, der Staat habe keine wirksamen Mittel gegen die Protestaktionen und können einen geregelten PKW-Berufsverkehr gewährleisten. "Es könnte der Eindruck entstehen, dass die Staatsgewalt für Teile der Bevölkerung zunehmend ohnmächtig wirkt", heißt es in dem Gutachten. 

"Auf Grundlage der hiesigen Sach- und Kenntnislage" bilanzieren die Beamten, "die erforderliche Erheblichkeitsschwelle der begangenen und geplanten Straftaten" sei "noch nicht anzunehmen". Die intensiven Monate April und Mai 2023 sehen sie zwar nur als Momentaufnahme, die Ausführungen legen aber nahe, dass dauerhafte Aktionen auf diesem Level zu einer Bewertung der Letzten Generation als kriminelle Vereinigung führen würden. 

Der Auftrag zur Prüfung kam am 22. Mai, das finale Gutachten aus der Strafrechtsabteilung der Justizsenatsverwaltung trägt das Datum 11. Juli 2023. Bis dahin wurden also Taten berücksichtigt. Und, auch schon zum damaligen Zeitpunkt hält das Gutachten fest: Das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle zu bejahen, erscheint "ebenfalls nicht unvertretbar". Das Gutachten verweist hier auf den Beurteilungsspielraum der zuständigen Staatsanwaltschaft. Am Ende liegt die Beurteilung in deren Händen.  

Wie könnte das Ergebnis des neuen Gutachtens ausfallen? 

Für den Herbst und Winter hatte die "Letzte Generation" genau das angekündigt, was die Senatsjuristen in ihrem Gutachten vorzeichneten: Der Verkehr in Berlin sollte lahmgelegt werden. Es wäre ein Faktor, die Bewertung der Gruppe hin zur kriminellen Vereinigung zu verschieben. In den letzten Monaten gab es zahlreiche Straßenlockaden in Berlin. Davon, dass der Hauptstadtverkehr zusammengebrochen wäre, kann aber wohl keine Rede sein. Das Niveau von April und Mai scheint nicht erreicht worden zu sein.  

Offenbar geht die Gruppe selbst unterdessen davon aus, dass sich das Aktionsmittel abnutzt: Laut einem 7-seitigen Papier der Kerngruppe aus Herbst 2023, das LTO vorliegt, setzen die Aktivisten auf einen Strategiewechsel. Der Fokus liegt auf Aktionen in der Hauptstadt, "tägliche Massenbesetzungen" und "dauerhaft störende Proteste", auch bei Veranstaltungen. Dazu gehören offenbar auch symbolträchtige Störaktionen gegen den Marathon, Weihnachtsbäume, das Brandenburger Tor, die Weltzeituhr. Rückt sie das aus Sicht der Staatsanwaltschaft näher an eine kriminelle Vereinigung? Die Staatsanwaltschaft wird auch neue Fragen bei der Bewertung klären müssen. Macht es einen Unterschied, ob im Namen des Klimaschutzes eine Straße blockiert oder das Brandenburger Tor besprüht wird?  

Andere offene Fragen: Berücksichtigt die Staatsanwaltschaft eines Bundeslands für den 129-StGB-Verdacht nur Straftaten der bundesweit agierenden Gruppe, die in ihrem Bundeslang begangen werden sollten? Dafür spricht sich das Berliner Gutachten aus. In Bayern wird das offenbar anders gesehen.  

Das nun von der Generalstaatsanwältin neu in Auftrag gegeben Gutachten wird auch die übrigen Einschätzungen in der Justizlandschaft berücksichtigen. Inzwischen hat das Landgericht München die Entscheidungen des Amtsgerichts München zum Anfangsverdacht bestätigt. Im April 2023 hatte bereits ein Staatsschutzsenat des Landgerichts Potsdam den Anfangsverdacht einer kriminellen Vereinigung bei der Letzten Generation bestätigt. Die Staatsanwaltschaft Neuruppin wollte nach Medienberichten schon bis Jahresende eine Entscheidung über die Anklage wegen einer kriminellen Vereinigung gegen die Gruppe treffen. 

Aber selbst dann wird es bis zu einem ersten Urteil noch Monate dauern. Und das wäre auch erst mal nur ein Mosaikstück in dem Gesamtbild der verschiedenen Entscheidungen. Bis sich Rechtssicherheit etwa durch obergerichtliche Entscheidungen einstellt, wird es noch dauern. 

Stand jetzt ist auch nicht unwahrscheinlich, dass bis zu einer finalen gerichtlichen Klärung von der "Letzten Generation" nicht mehr allzu viel übrig ist. Die Welt berichtete über Verwerfungen und Austritte an der Spitze der Gruppe, zuletzt sicherte sich eine Teilgruppe offenbar vorsichtshalber die Markenrechte "Letzte Generation". Ganz unabhängig davon ist der strafrechtliche Umgang mit den Protesten der (Klima-)Aktivisten eine Bewährungsprobe für den Rechtsstaat.

Zitiervorschlag

Staatsanwaltschaft prüft neu: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53607 (abgerufen am: 18.11.2024 )

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