Die Digitalisierung krempelt Angebot und Ausführung anwaltlicher Dienstleistungen zunehmend um. Martin Fries fragt sich, was passiert, wenn die Legal-Tech-Welle auch die Ziviljustiz erfasst.
Unken rufen gerne, dass staatliche Behörden kaum innovationsfähig seien. Aus dieser Perspektive kann man lange darauf warten, dass die aktuelle Legal-Tech-Bewegung irgendwann auch einmal die Justiz erreicht. Doch der Schein trügt ein Stück weit, denn der Fahrplan für den elektronischen Rechtsverkehr steht schon seit vielen Jahren im Gesetz. Allein, es hapert an der Umsetzung.
Der jüngste Akt in diesem Trauerspiel: Das besondere elektronische Anwaltspostfach, das zu Weihnachten 2017 implodierte und seither intensiv besungen wird, aber auf absehbare Zeit keine Regung mehr zeigt. Nur Optimisten gehen noch davon aus, dass der vereinbarte Zeitplan für die Digitalisierung des Rechtswesens einschließlich der vollständigen Umstellung auf die E-Akte bis zum Jahr 2026 abgeschlossen sein wird.
Dabei wäre all das nur der Anfang dessen, was die Digitalisierung zugunsten einer leistungsfähigen Justiz bewegen könnte. Längst haben sich mehrere Forschergruppen damit beschäftigt, wie sich Gerichtsverfahren einschließlich der mündlichen Verhandlung komplett in die digitale Sphäre verlagern lassen. Im chinesischen Hangzhou ist vor kurzem das weltweit erste Onlinegericht an den Start gegangen. Auch die Niederlande und England erproben digitale Gerichtsverfahren, um Transaktionskosten zu sparen. Den Parteien bringt das einen besseren Zugang zum Recht, während sich Anwälte einen Gutteil ihrer im Grunde anachronistisch ineffizienten Reisetätigkeit schenken können.
Online-Gerichtsstand: Prozessieren aus dem Wohnzimmer
Aber Online-Prozesse sparen nicht nur Kosten. Ein echter Online-Gerichtsstand hat durchaus auch Auswirkungen auf das gesprochene Recht. Heute werden viele Wertungsentscheidungen des materiellen Rechts dadurch verzerrt, dass das Prozessrecht nur geografisch gebundene Gerichtsstände kennt. Wo die Parteien nicht am selben Ort wohnen beziehungsweise sitzen, muss sich einer von ihnen auf die Reise machen.
Dieser Nachteil wiegt so schwer, dass viele Anspruchsinhaber vor allem bei geringwertigen Streitigkeiten lieber auf die Rechtsdurchsetzung verzichten: Wenn mein DSL-Anbieter meine Telefonrechnung unberechtigter Weise erhöht, werde ich meinen Rückgewähranspruch nicht einklagen, wenn ich dafür von München nach Düsseldorf fahren muss. Ein Online-Gerichtsstand, bei dem die Beteiligten buchstäblich aus dem heimischen Wohnzimmer heraus prozessieren können, erscheint hier fast schon als salomonische Lösung, weil so weder hüben noch drüben reisebedingte Nachteile entstehen.
Wie lässt sich so etwas umsetzen? Man könnte bei online abgeschlossenen Verträgen beginnen. Denn gerade wer im Internet Verträge schließt, wird für internetbasierte Rechtsdurchsetzungsmechanismen dankbar sein. Dort, wo sich in den vergangenen Jahren niedrigschwellige Schlichtungsstellen breitgemacht haben, könnte die Justiz auf diese Weise Marktanteile zurückerobern. Man mag bedauern, dass es heute außergerichtliche Anbieter gibt, die der Justiz Konkurrenz machen. Umso wichtiger ist es, den Wettbewerb anzunehmen und die Bedeutung der dritten Gewalt durch eine überlegte Modernisierung der Justiz zu stärken.
Mehr Justizeffizienz durch Strukturierung und Spezialisierung
Neben dem Mehrwert aus Sicht der Parteien verspricht die Digitalisierung der Justiz auch Effizienzgewinne innerhalb der Gerichte. So könnte der Gesetzgeber einen Vorschlag des Deutschen Juristentags aufgreifen und den Parteivortrag im Zivilprozess bestimmten Strukturvorgaben unterwerfen. Mit Hilfe digitaler Relationstechnik ließe sich sehr transparent und schnell abbilden, wie sich die Parteien zu den Tatbestandsvoraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs verhalten und was sie auf das Vorbringen ihres Gegenübers erwidern. Das würde Richtern viel Zeit sparen, die sie heute damit verbringen, sich den jeweils relevanten Parteivortrag aus den verschiedensten Ecken der Schriftsätze zusammenzusuchen.
Darüber hinaus: Wenn sich Richter und Parteien nicht mehr physisch in einem Raum treffen müssen, rücken landes- oder bundesweite Spezialgerichte in greifbare Nähe. Bei den jüngst regulierten Verbraucherschlichtungsstellen gibt es diese Zentralisierung schon lange.
Und auch auf Seiten der Parteien gehört die Anspruchsbündelung heute längst zum Alltag: Legal-Tech-Dienstleister setzen Fluggastrechte und Mieteransprüche im Akkord durch und die Unternehmen wehren sich dagegen mit Hilfe der immer gleichen Großkanzleien. Nur die Justiz setzt noch großflächig auf dezentrale Arbeit. Das ist nicht nur aufwändig, sondern steht auch einer effektiven Vereinheitlichung der Rechtsprechung entgegen, die der Bundesgerichtshof nur begrenzt steuern kann. Die aktuellen Pläne zur Einführung einer Musterfeststellungsklage zielen hier zwar auf eine Verbesserung, an der Effektivität dieses Instruments bestehen aber erhebliche Zweifel.
Wer ist hier der Richter?
Welche weiteren Hilfestellungen für die Gerichte kann die Digitalisierung mit sich bringen? Möglich ist tatsächlich vieles, sinnvoll ist nicht alles. Denkbar wäre zum Beispiel ein digitaler Richterassistent, der nicht nur wie eine Suchmaschine auf Suchanfragen reagiert, sondern von sich aus den – womöglich strukturierten – Vortrag der Parteien studiert, Textbausteine für die Abfassung eines Urteils empfiehlt und vielleicht sogar ein Urteil vorformuliert.
Das klingt auf den ersten Blick nach einer Dystopie. Zumindest Familienrechtler werden dafür aber nur ein müdes Lächeln übrig haben, denn sie setzen schon heute häufig Software zur Berechnung von Unterhalt, Zugewinnausgleich und Versorgungsausgleich ein. Nicht selten tun sie dies, ohne den Berechnungsweg im Einzelnen noch nachvollziehen zu können. Gerade hier liegt natürlich die Crux: Sobald Richter ihr Urteil nur noch aus einem Subsumtionsautomaten ablesen, dessen Rechenwege sie nicht mehr verstehen, verschiebt sich die Richterfunktion auf den Programmierer. Der ist vielleicht Erfahrungsjurist im Seehofer'schen Sinne, aber eben kein Richter.
Das familienrechtliche Beispiel zeigt: Legal Tech beginnt immer mit den einfachen Fällen. Allerdings wird sich die Digitalisierung der Rechtsfindung mittelfristig nicht auf die Anwendung von Gesetzen beschränken, deren Rechtsfolge sich in einer Zahl erschöpft. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die großen juristischen Verlage – gewissermaßen in digitaler Fortschreibung ihrer Formularhandbücher – in absehbarer Zeit für bestimmte Rechtsfragen eine Subsumtionssoftware auflegen. Und man darf damit rechnen, dass dann nicht nur Rechtsanwälte, sondern auch Richter solche Tools nutzen.
Die dieser Software zugrunde liegenden Algorithmen wird man allerdings nicht so einfach überprüfen können. Die Justiz muss daher auch wachsam sein: Die Digitalisierung bietet ein immenses Potenzial dafür, Verfahren effizienter zu führen. Wenn es aber um den Kern der richterlichen Arbeit geht, sollte man digitale Helferlein nur einsetzen, wenn man ihnen auch genau auf die Finger schaut.
Der Autor Martin Fries ist Privatdozent an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht in den Bereichen Zivil- und Zivilverfahrensrecht, Rechtstheorie und Anwaltsrecht. Sein besonderes Interesse gilt den Folgen der Digitalisierung für das Privatrecht und die Rechtsdurchsetzung.
Legal Tech in der Justiz: . In: Legal Tribune Online, 09.03.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/27435 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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