Wenige Male im Jahr sitzen in Straßburg fünf Richter zusammen und beraten, welche Fälle wichtig genug für die Große Kammer sind. Eines der ersten beiden Urteile im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putsch in der Türkei zählt nicht dazu.
In den vergangenen zwei Jahren hat ein Thema wie kein anderes die Arbeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in das Licht der Öffentlichkeit gerückt: der Putschversuch in der Türkei vom 15. Juli 2016. In der Folge erreichten die Straßburger Richter bis heute über 34.000 Beschwerden.
Schon Anfang 2017 sagte der Präsident des Gerichtshofs, Guido Raimondi, in seiner Jahresansprache: "Es ist ein eindringliches Beispiel, wie sich eine große politische Krise in einem Mitgliedstaat direkt auf die Arbeit des Gerichtshofs auswirken kann."
Auch um der Arbeit Herr zu werden, wiesen die Richter zahlreiche Beschwerden als unzulässig ab - mit Verweis darauf, dass der innerstaatliche Rechtsweg in der Türkei noch nicht erschöpft sei. Mitte März kamen dann die ersten beiden Urteile in der Sache: Sie werteten die Untersuchungshaft von Mehmet Altan und Sahin Alpay als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK, Urt. v. 20.03.2018, Az. 13237/17 u. 16538/17).
Drei Monate später steht fest: Die Große Kammer wird sich mit dem Putschversuch vorerst nicht beschäftigen. Zu unwichtig, lautete das Votum aus Straßburg.
Große Themen vor der Großen Kammer
Nach einem Kammerurteil können beide Seiten - Beschwerdeführer und Regierung - innerhalb von drei Monaten beantragen, dass sich noch einmal die Große Kammer mit dem Fall beschäftigt, Artikel 43 Abs. 1 EMRK. Mehmet Altan, der in der Türkei noch vor dem Urteil des EGMR zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, hatte das getan. Sahin Alpay nicht. Genauso wenig die türkische Regierung, sie hatte die Urteile in beiden Fällen akzeptiert.
In der Großen Kammer beraten und entscheiden 17 Richter. Ihre Aufgabe ist es, die Qualität und Einheitlichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu sichern. Es ging und geht vor der Großen Kammer um große Themen: das Kopftuchverbot an türkischen Universitäten, die Folterandrohung für Magnus Gäfgen, künstliche Befruchtung, die Praxis der Sicherungsverwahrung in Deutschland, den Tod eines Demonstranten beim G8-Gipfel in Genua, Überwachung am Arbeitsplatz.
Die Überprüfung eines Kammerurteils durch die Große Kammer ist auf "Ausnahmefälle" beschränkt. Die Sache muss "eine schwerwiegende Frage der Auslegung oder Anwendung" der Konvention oder ihrer Protokolle oder "eine schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung" aufwerfen, Artikel 43 Abs. 2 EMRK.
Ob das der Fall ist, prüft ein Ausschuss von fünf Richtern. Sie haben die Voraussetzungen des Artikel 43 Abs. 2 EMRK eng auszulegen. Nur sehr wenige Anträge haben Erfolg. Zwischen 1998 und 2011 wurde nur gut fünf Prozent der Anträge stattgegeben. Begründen müssen die Richter ihre Entscheidungen nicht, und das tun sie in der Regel auch nicht.
Den Antrag von Mehmet Altan lehnten sie ab - wie üblich schwiegen sie über ihre Gründe.
Bedeutung für künftige Fälle
Aber es gibt Richtlinien für die Entscheidungen des Ausschusses (Erläuterungen zum 11. Zusatzprotokoll). Danach gehen an die Große Kammer unter anderem Fragen, die für künftige Fälle von Bedeutung sind.
Beim EGMR sind noch knapp 5.000 Beschwerden im Zusammenhang mit dem Putschversuch anhängig, weitere Fälle könnten Straßburg noch einmal erreichen, wenn die Beschwerdeführer zunächst den Rechtsweg in der Türkei durchlaufen haben - all das keine "künftigen Fälle", für die das Urteil Altan vs. Türkei von Bedeutung ist?
In Altan vs. Türkei ging es - und darum wird es in vielen der noch anhängigen Beschwerden auch gehen - um die Frage, ob die Türkei die Geltung der Menschenrechtskonvention wirksam und zu Recht nach Artikel 15 EMRK ausgesetzt hat. Es ging - und darum wird es in vielen der noch anhängigen Beschwerden auch gehen - um die Frage, ob die Untersuchungshaft von Mehmet Altan politisch motiviert war im Sinne von Artikel 18 EMRK. Und es ging - und darum wird es in vielen der noch anhängigen Beschwerden auch gehen - um die Frage, wie effektiv der Rechtsweg in der Türkei noch ist.
Höchst politische Angelegenheiten
Eine Verweisung an die Große Kammer ist auch möglich, wenn "schwerwiegende Frage von allgemeiner Bedeutung" aufgeworfen werden. Das ist der Fall, wenn höchst politische Angelegenheiten betroffen sind.
Der Putschversuch in der Türkei - keine "höchst politische Angelegenheit"?
"Die bloße Tatsache, dass ein Fall sachlich komplex oder politisch heikel ist oder Anlass zu abweichenden Meinungen gegeben hat, rechtfertigt als solche nicht seine Verweisung an die Große Kammer", heißt es in einem Bericht des Gerichtshofs von 2011 über die bisherige Praxis des Ausschusses.
Der Bericht nennt auch Beispiele, was in der Vergangenheit Fälle von allgemeiner Bedeutung waren, die an die Große Kammer verwiesen worden sind. Etwa sogenannte "high profile cases": Sachverhalte, die historische, geopolitische oder religiöse Fragen aufwerfen oder einen Bezug haben zu Ereignissen, die die besondere Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen haben.
Die Beschwerde gegen eine Inhaftierungen im Zusammenhang mit dem Putschversuch in der Türkei - kein "high profile case" von historischer Bedeutung, der unter der besonderen Aufmerksamkeit der Medien stand und steht?
Die fünf Richter werden ihre Gründe gehabt haben, den Antrag von Mehmet Altan abzulehnen. Offensichtlich sind sie nicht. Nachvollziehbar anhand der bisherigen Praxis auch nicht unbedingt. Schade, dass die Richter auch in diesem Fall ihre Entscheidung nicht erklären. Dabei ist eine klare Begründung der Ausschuss-Entscheidungen sogar etwas, was sich auch die Mitgliedstaaten regelmäßig wünschen.
Der Putschversuch in der Türkei: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31017 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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