Die Gerichte kämpfen mit den Folgen der Coronakrise. Könnten Online-Verhandlungen helfen? Ein Vorstoß aus der Justiz deklariert sich selbst zum Referentenentwurf - was aber ist wirklich an angeblichen Plänen der Bundesregierung dran?
Es klang nach einer kleinen prozessrechtlichen Sensation. So berichtete es am Dienstag das Expertenforum Arbeitsrecht (EFAR). Angeblich sollte nach einem bislang unveröffentlichten Referentenentwurf eine Reform der Arbeitsgerichtsbarkeit anstehen, geplant seien echte "Online-Courts", also Gerichtsverhandlungen, die online stattfinden, ganz ohne einen physischen Gerichtssaal auskommen sollen und nicht öffentlich geführt werden. Ein Novum in der deutschen Gerichtslandschaft. Und eine Rettungsmaßnahme für die Arbeitsgerichte, an denen seit der Coronakrise nur noch im Notbetrieb gearbeitet wird und keine Sitzungen mehr stattfinden?
Nach Recherchen von LTO gibt es jedenfalls keinen solchen Referentenentwurf aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) oder dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV). Stattdessen handelt es sich um ein Eckpunktepapier aus dem Bundesarbeitsgericht und einen als "Referentenentwurf" deklarierten Vorschlag aus einem einzelnen Landesarbeitsgericht. Beide Dokumente haben als Vorschlag das BMAS und auch das BMJV erreicht, die Vorschläge könnten dort also auch für andere Gerichtsbarkeiten diskutiert werden, etwa indem man eine entsprechende Regelung direkt in der Zivilprozessordnung (ZPO) verankert. Sie sind aber noch nicht weiter gereift und bloß externe Vorschläge.
In dem Eckpunktepapier wird nach LTO-Informationen ein Überblick zu denkbaren Änderungen für die mündlichen Verhandlungen der Arbeitsgerichte in Zeiten der Coronakrise gegeben. Der sogenannte "Referentenentwurf" wird da konkreter. Er ist nicht nur mit "Referentenentwurf" überschrieben, sondern auch schon in dieser Form abgefasst, also mit Regelungsentwürfen, Begründung und so weiter. Es ist die Vorlage, in der in einem Ministerium ein Gesetzentwurf ausgearbeitet wird. Nur stammt sie eben nicht aus einem Ministerium. Und nach LTO-Recherchen befürworten nicht alle LAG-Präsidenten den Entwurf.
Der sog. "Referentenentwurf": Kein Gerichtssaal, ohne Publikum
Zentral sieht er vor, in den bisherigen § 46 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) noch einen dritten Absatz einzufügen. Demnach könne das Gericht "unbeschadet des § 128a ZPO zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten bei Menschen anordnen, dass die mündliche Verhandlung ausschließlich im Wege der zeitgleichen Übertragung in Bild und Ton in unterschiedlichen Räumlichkeiten, auch außerhalb des Sitzungszimmers, stattfindet, sofern die Prozessbeteiligten die technischen Voraussetzungen hierfür in zumutbarer Weise schaffen können."
§ 128a ZPO sieht jetzt schon vor, dass Verhandlungen per Videokonferenz geführt werden können – dabei sitzen allerdings die Richter im Sitzungssaal, der auch für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Parteien, Prozessvertreter und sonstige Beteiligte werden für alle sichtbar zugeschaltet. Üblich ist das allerdings bisher nicht, oft fehlt es schon an der entsprechenden Ausstattung.
Der Vorschlag geht aber deutlich darüber hinaus: Entstehen soll nach dieser Vorstellung die digitale Version einer mündlichen Verhandlung - ohne physischen Gerichtssaal und ohne Publikum. Der Entwurf sieht ausdrücklich vor, für die Verhandlung und für die Verkündung die Öffentlichkeit auszuschließen.
Das wäre ein tiefgreifender Einschnitt in den Öffentlichkeitsgrundsatz des § 169 Gerichtsverfassungsgericht (GVG). Selbst angesichts der aktuellen Coronakrise, die viele Gerichte zu einem "Notbetrieb" zwingt, haben die Justizministerien und die Gerichte stets betont, dass dieser Grundsatz weiter gilt. Zwar werden die meisten Verhandlungen verschoben und an vielen Gerichten gelten Zugangsbeschränkungen – etwa, dass Prozessbeteiligte und Publikum Angaben zu ihrer Gesundheit machen müssen. Findet eine Verhandlung jedoch statt, ist grundsätzlich auch der Öffentlichkeit Zugang zu gewähren.
BMAS: Bundesregierung prüft, ob Anpassungen nötig sind
Das BMAS teilte auf Anfrage von LTO mit: "Derzeit ist ein Notbetrieb bei den Arbeitsgerichten sichergestellt. Zudem geben die prozessualen Instrumentarien einschließlich der Möglichkeiten des elektronischen Rechtsverkehrs grundsätzlich viele Möglichkeiten, um mit der gegenwärtigen Situation sachgerecht umzugehen. Ob Anpassungen des Arbeitsgerichtsgesetzes in Anbetracht der Corona-Krise erforderlich sind, wird derzeit innerhalb der Bundesregierung geprüft."
Das müsste nicht unbedingt ein weitreichender Vorschlag wie die Online-Verhandlung sein. Denkbar wären auch andere Anpassungen, etwa, dass das schriftliche Verfahren, das bisher in erster Instanz an den Arbeitsgerichten ausgeschlossen ist, zugelassen wird.
Nicht alle LAG-Präsidenten setzen auf Änderungen des Arbeitsgerichtsgesetzes. So schlägt etwa der Präsident des LAG Nürnberg, Joachim Vetter, vor, mündliche Verhandlungen möglichst schnell wiederaufzunehmen, wenn der in Bayern bestehende Katastrophenfall aufgehoben wird – und stattdessen auf umfangreiche Infektionsschutzmaßnahmen am Gericht zu achten: Vetter betont: "Gerade in den erstinstanzlichen Verfahren im Arbeitsrecht wird im Gerichtssaal sehr viel besprochen und diskutiert. Das lässt sich nur vor Ort machen. Und nur, wenn die Parteien miteinander reden, können wir in vielen Fällen zu einer vernünftigen Regelung etwa bei Kündigungen kommen."
Die mündliche Verhandlung sei wichtig, betont Vetter, und sie lasse sich in den meisten Fällen auch so durchführen, dass alle Beteiligten vor Ansteckung geschützt sind: "Wir werden die Sitzungssäle möglichst so einrichten, dass alle Personen ausreichend Abstand voneinander halten können. Wir verlängern zum Beispiel das Richterpult, damit die ehrenamtlichen Richter weiter auseinandersitzen können und stellen die Stühle für Parteien und Publikum mit entsprechenden Abständen auf."
Annelie Kaufmann und Pia Lorenz und Markus Sehl, Coronakrise: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41206 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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