Zum ersten Mal muss sich das BVerfG mit dem für deutsche Strafverfolger so wichtigen Encrochat-Datenvorrat beschäftigen. Dürfen die gehackten Nachrichten vor Gericht verwertet werden? Der BGH hat das vor wenigen Wochen noch bejaht.
Ob deutsche Gerichte, Staatsanwaltschaften und Polizeikräfte sich weiterhin auf Erkenntnisse aus einem riesigen Datenschatz entschlüsselter Nachrichten stützen können, wird das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) beschäftigen. Ein Sprecher des Gerichts bestätigte gegenüber LTO, dass eine erste Verfassungsbeschwerde zu einem sogenannten Encrochat-Fall eingegangen ist (Az.2 BvR 558/22).
Vor wenigen Wochen hatten sich kurz hintereinander der 5. und 6. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) mit der umstrittenen Frage beschäftigt, ob die aus den Encrochat-Daten gewonnene Erkenntnisse einem Beweisverwertungsverbot unterliegen – und hatten keine Einwände.
Nachrichten von 32.000 Nutzern - Ermittlungscoup oder Ermittlungsfehler?
Encrochat war ein Kommunikationsanbieter, der sich auf verschlüsselte Kommunikation spezialisiert hatte. Das Unternehmen bot abhörsichere Mobiltelefone inklusive Software an. Damit hielten zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer ein Telefon in den Händen, mit dem sie glaubten, unbedarft kommunizieren zu können. Kostenpunkt: rund 1.500 Euro pro Telefon. Im Frühjahr 2020 wurde bekannt, dass es den französischen Behörden gelungen war, mithilfe einer aufgespielten Überwachungssoftware die Kommunikation, die über diese Encrochat-Geräte lief, quasi live mitzulesen. Auch beschafften sich die Ermittler Zugriff auf die gespeicherten Textnachrichten, Fotos, Videos, Kontaktdaten. Ein vielversprechender Datenschatz.
Betroffen waren laut Gerichtsdokumenten, die LTO vorliegen, rund 32.000 Nutzer in 122 Ländern – darunter auch in Deutschland. Dies ermöglichte für die Strafverfolgungsbehörden einen ungewöhnlich direkten Einblick in die Kommunikation zwischen mutmaßlichen Kriminellen, vor allem aus dem Bereich des organisierten Drogenhandels. Über die europäische Polizeibehörde Europol erhielten auch Ermittlerinnen und Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) ab dem Frühjahr 2020 täglich Lieferungen aus dem französischen Datenschatz: Nach Angaben des BKA von Ende 2021 sind durch die Encrochat-Daten über 2.700 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, in Tausenden Fällen landeten Beschuldigte in Untersuchungshaft, Strafverfolger warnten bereits vor Überlastung.
Auf der anderen Seite ist umstritten, ob die Daten vor Gericht verwertet werden dürfen. Eine Reihe von Strafverteidigerinnen und -verteidigern, die Mandanten in solchen Fällen beraten, befürchten ein "Befugnis-Shopping unter den Ermittlungsbehörden", wie es der Kölner Strafverteidiger Prof. Dr. Ulrich Sommer formulierte. "Die deutschen Ermittler erhalten auf dem Umweg über die französische Behörden Zugriff auf die Kommunikation deutscher Staatsangehöriger auf deutschem Boden, die nach der deutschen Rechtsordnung so gar nicht erst hätten erhoben werden dürfen", so Sommer im August 2021 zu LTO.
Besonders sensibel scheint die Frage, wann französische Behörden eine Überwachung auf deutschem Boden starteten und wann die deutschen Strafverfolger von dem Fund genau erfuhren und wie sie darauf reagiert haben.
BGH sieht kein Beweisverwertungsverbot
Seit Herbst 2020 beschäftigt der Encrochat-Datenvorrat auch die deutschen Gerichte. Aufsehen erregte eine Entscheidung des Landgerichts Berlin, das die Verwertbarkeit ablehnte, sonst gingen Gerichtsentscheidung überwiegend pro Verwertbarkeit aus. Im März 2022 hatte sich der 6. Strafsenat des BGH zum ersten Mal mit Encrochat befasst und sich auch zur Verwertbarkeit mit einigen wenigen Zeilen positioniert – obwohl er das gar nicht gemusst hätte. Die Frage war in dem Fall nicht entscheidungserheblich, die Revision war aus anderen Gründen unbegründet. In einer ergänzenden Bemerkung schloss sich der Senat "im Ergebnis" der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung an.
Gegen diese BGH-Entscheidung wurde nun Verfassungsbeschwerde eingelegt. Laut dem Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate, der den Fall auch schon in der Revision vertreten hatte, werde in der Beschwerde eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetzes (GG) sowie der Art. 7 und 8 der Europäischen Grundrechtecharta gerügt.
Strate begründet die Beschwerde damit, dass der BGH als letztinstanzlich zuständiges Gericht die EU-Richtlinie zur Europäischen Ermittlungsanordnung (2014/41/EU) als unmittelbar anwendbares Unionsrecht hätte auslegen müssen. "Dieser Verpflichtung ist er aber nicht nachgekommen", so Strate. Er hebt hervor, dass die in der Richtlinie enthaltene Bestimmung des Art. 30 zur Telekommunikationsüberwachung durch den Europäischen Gerichtshof keine Ermächtigungsgrundlage für die vorgenommenen Ermittlungsmaßnahmen hergäbe.
Strate erklärt: "Die Richtlinie enthält einen abschließenden Kanon von Ermittlungsmaßnahmen, deren Ergebnisse im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung übermittelt werden könnten".
Nächste Verfassungsbeschwerde gegen BGH-Entscheidung bereits angekündigt
Anders sieht das der 5. Strafsenat des BGH in seiner Entscheidung von Anfang März 2022 – der zweiten BGH-Entscheidung in Sachen Encrochat. Und dieses Mal lieferte das Gericht nicht nur eine Handvoll Zeilen "ergänzende Bemerkung", sondern auf 30 Seiten eine ausführliche Begründung. Dort legen die Richterinnen und Richter dar, warum auf allen Ebenen – internationales Strafrecht, Verfassungsrecht, Strafprozessrecht – die Verwertung der Daten ihrer Auffassung nach gerechtfertigt ist. Deshalb könnte dieses Verfahren zu einer Art Musterprozess in Sachen Encrochat werden.
Spätestens dieser Fall wird dem BVerfG die zentralen Fragen rund um die Verwertbarkeit vorsetzen. Der Strafverteidiger Strate, der auch die Revision des zweiten BGH-Falls betreute, hat gegenüber LTO bereits angekündigt, auch hier Verfassungsbeschwerde zu erheben.
Verfassungsbeschwerde: . In: Legal Tribune Online, 01.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48020 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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