Der Fall Sami A. hat das Verhältnis von Justiz, Behörden und Politik auf die Probe gestellt. Nun will das BAMF den Verwaltungsgerichten nicht mehr zusagen, bis zu deren Entscheidung nicht abzuschieben. Deren Vertrauen ist massiv erschüttert.
Mit Datum vom 23. Juli 2018 schickte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg ein einseitiges Schreiben an die deutschen Oberverwaltungsgerichte (OVG), dessen Wortlaut LTO vorliegt. Dort heißt es "Bitte unterrichten Sie die Verwaltungsgerichte Ihres Zuständigkeitsbereiches darüber, dass das Bundesamt künftig generell in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes keine Stillhaltezusagen mehr abgeben wird." Ein Sprecher des BAMF bestätigte LTO auf Anfrage diese Entscheidung der Bundesbehörde.
Ziemlich genau zehn Tage vorher hatte die Abschiebung von Sami A. in NRW das Kräfteverhältnis von Justiz, Behörden und Politik auf eine harte Probe gestellt. Erst drei Tage zuvor hatte sich der nordrhein-westfälische Flüchtlingsminister in einer Sondersitzung im Landtag rechtfertigen müssen. Mit der Mitteilung an die OVG hat das BAMF offenbar erste Konsequenzen gezogen.
Bislang entsprach es der Praxis in Asylverfahren, dass das BAMF eine sogenannte Stillhaltezusage gab, wenn beim zuständigen Verwaltungsgericht noch ein asylrechtliches Eilrechtsschutzverfahren auf eine Entscheidung wartete. Mit dieser Zusage sollte sichergestellt werden, dass der Antragsteller nicht schon abgeschoben wird, bevor das Gericht über sein Eilverfahren entscheidet. Eine solche Zusage will das BAMF jetzt nicht mehr geben.
Keine Stillhaltezusage im Fall Sami A.
Hintergrund ist: In den meisten Fällen entfaltet im Asylrecht nicht die Klageerhebung, sondern erst eine Entscheidung im Eilrechtsschutz aufschiebende Wirkung; erst sie hindert die Behörde daran, mit der Abschiebung vollendete Tatsachen zu schaffen. Das macht das Zwischenstadium heikel – und Absprachen zwischen Justiz und Behörden notwendig.
Bisher setzten die Verwaltungsgerichte, das BAMF und die für eine Abschiebung zuständigen Ausländerbehörden in diesen Fällen auf Kommunikation und Zusagen. Doch der Fall von Sami A. hat offenbar Spuren hinterlassen.
Auch im Fall von Sami A. hatte das VG Gelsenkirchen das BAMF am 11. Juli zu einer Stillhaltezusage aufgefordert. Das Bundesamt antwortete am 12. Juli: Es gehe davon aus, dass der Kläger nicht rechtsschutzlos gestellt sei, eine vorgeschlagene Stillhaltezusage werde deshalb nicht für erforderlich erachtet. Zudem teilte es mit, dass die angesetzte Rückführung für den 12. Juli storniert wurde. Der Rest ist quasi schon Geschichte. Das VG Gelsenkirchen verließ sich darauf, ohne von der neu angesetzten Abschiebung am Folgetag zu erfahren – und entschied ohne eine eilige Zwischenverfügung im normalen Verfahrensgang. Als sein Beschluss am Freitagmorgen die Behörden erreichte, war das Flugzeug mit dem Islamisten bereits in der Luft.
BAMF: Gerichte sollen künftig mit lokaler Ausländerbehörde kommunizieren
Am Tag nach der Entscheidung, mit der das OVG Münster die Rückholungsanordnung für den Islamisten bestätigte, kritisierte die Präsidentin des OVG in einem Interview ungewöhnlich scharf, dass die Behörden in dem Fall "die Grenzen des Rechtsstaats ausgetestet" hätten. Auf die bisherige Praxis der Stillhaltezusagen sollten die Gerichte sich vorerst besser nicht mehr verlassen, sagte Ricarda Brandt Mitte August.
Das Schreiben des BAMF vom 23. Juli dürfte der OVG-Präsidentin zu diesem Zeitpunkt längst vorgelegen haben. "Maßgeblich für die Beurteilung der Frage eines Rechtsschutzbedürfnisses für eine Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ist allein, ob seitens der für den Vollzug zuständigen Ausländerbehörde die Gefahr einer Vollstreckungsmaßnahme vor einer gerichtlichen Entscheidung droht", begründet das Amt seine Entscheidung.
Das BAMF betont darin, dass es "von der Vollständigkeit und der Aktualität der Angaben der Ausländerbehörde abhängig" sei. "Wegen der mit dieser mittelbaren Kommunikation verbundenen Risiken halte ich es für sachgerecht, die Verwaltungsgerichte künftig auf eine unmittelbare Kommunikation mit der zuständigen Ausländerbehörde zu verweisen", schreibt die Vizepräsidentin des BAMF an die Präsidenten der OVG.
Migrationsrechtlerin: "BAMF will sich der Verantwortung entziehen"
Für die Berliner Anwältin für Migrationsrecht Simone Rapp will das BAMF sich damit seiner Verantwortung entziehen. "Das Bundesamt trifft die verfassungsrechtliche Verantwortung, sicherzustellen, dass ein Betroffener vor einer Abschiebung effektiven Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann."
Rapp führt weiter aus: "Das Bundesamt hat nicht die Kompetenz, sich durch eine einseitige Erklärung einer bestehenden Zuständigkeit zu entziehen und diese zu Lasten der Betroffenen auf die einzelnen Ausländerbehörden abzuwälzen. Diese sind am Rechtsstreit nicht beteiligt, haben keine Kenntnis vom Sach- und Streitstand und ihnen fehlt die erforderliche Sachnähe".
Der Rechtsanwalt und Lehrbeauftragte für Migrationsrecht an der Uni Düsseldorf, Marcel Keienborg, weist darauf hin, dass das BAMF sich bislang in einer unbefriedigenden Situation befunden habe. "Auch im Fall Sami A. war es offenbar so, dass das BAMF von der drohenden Abschiebung durch die Ausländerbehörde nicht informiert war." Keienborg sieht keine Kompetenzprobleme, wenn das BAMF nun nicht mehr länger Zusagen geben will, über deren Grundlage es möglicherweise überhaupt nicht ausreichend informiert ist.
Das BAMF sei überhaupt erst für die Stillhaltezusagen ins Spiel gekommen, weil es in Verfahren stellvertretend für die Bundesrepublik Deutschland Antrags- bzw. Klagegegner ist. "Die operative Durchführung liegt aber bei den örtlichen Ausländerbehörden." Keienborg betont, dass es für die Stillhaltezusage keine gesetzliche Grundlage gibt. "Bisher waren solche Absprachen immer ständige Praxis, und zumindest aus Sicht der Gerichte hat sich das bewährt."
VG-Beschlüsse kritisieren die Haltung des BAMF
Für die Gerichte scheint es nach dem Schreiben des BAMF aber keine Vertrauensbasis mehr für eine Zusammenarbeit in Asylsaschen zu geben. Die Gerichte werden in Zukunft wohl eine Zwischenverfügung erlassen müssen, wenn sie sicherstellen wollen, dass ihnen keine Behörde mit einer Abschiebung zuvorkommt.
Erste solche VG-Beschlüsse, auch "Hängebeschlüsse" genannt, datiert auf Ende Juli und Anfang August 2018, liegen LTO vor. Dort kommt das gestörte Vertrauensverhältnis zum BAMF deutlich zum Ausdruck: In einem Beschluss des VG Berlin wird ausdrücklich auf das Schreiben Bezug genommen. Zwar habe die Kammer des VG Berlin ohnehin regelmäßig keine Stillhaltezusagen beim BAMF eingeholt, sondern dem BAMF allein mitgeteilt, "dass davon ausgegangen wird, dass vor einer Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren keine Abschiebung erfolgt", heißt es dort. Und weiter: "Für den Fall, dass eine solche anstünde, wurde um sofortige Mitteilung gebeten. Das war bislang völlig ausreichend."
Nun aber, führt die Kammer aus, könne das Gericht "angesichts der vom Bundesamt eingeräumten Koordinierungs- und Kommunikationsprobleme (…) nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgehen, dass es auf freiwilliger Basis rechtzeitig vom Bundesamt von einer anstehenden Abschiebung informiert wird." Und die Verwaltungsrichter werden noch deutlicher: "Mängel in der Kommunikation zwischen zwei Behörden dürfen aber die Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht gefährden."
Misstrauen sogar in Fällen gesetzlich verbotener Abschiebung
Ein weiterer Beschluss des VG Gelsenkirchen von Mitte August, der LTO vorliegt, geht in seinem Misstrauen sogar noch einen Schritt weiter: Obwohl in dem konkreten Verfahren die Abschiebung vor einer abschließenden Entscheidung im Eilverfahren schon per Gesetz nach § 36 Abs. 3 S. 8 Asylgesetz (AsylG) ausgeschlossen ist – es also auf etwaige Absprachen mit den Behörden gar nicht ankäme –, hat das Gericht dennoch eine Zwischenverfügung erlassen. Es will eine zwischenzeitliche Abschiebung sicher ausschließen.
Migrationsrechtlerin Rapp verweist auch auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der in einer aktuellen Entscheidung für das europäische Recht betont hat, dass vor jeder Abschiebung eine gerichtliche Überprüfung stattfinden können muss. "Insbesondere die Entwicklung in der jüngsten Vergangenheit hat gezeigt, dass rechtswidrige Abschiebungen aufgrund von Behördenversagen und Kommunikationsfehlern trotz laufender gerichtlicher Verfahren erfolgen. Es ist zu befürchten, dass sich dieser verfassungs- und europarechtswidrige Zustand nunmehr noch verschlimmert".
LTO exklusiv - BAMF gibt keine Stillhaltezusagen zu Abschiebungen mehr: . In: Legal Tribune Online, 04.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30723 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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