Nach dem Fall Wirecard: Drei Fragen an die Finanz­auf­sicht

Gastkommentar von Prof. Dr. Alexander Thiele

05.08.2020

Der Fall Wirecard wirft Fragen auf. Wieso reagierte die BaFin so spät? Warum vertraut sie externen Beratern? Es mag Fehler gegeben haben, meint Alexander Thiele. Doch es geht auch um strukturelle Mängel der Finanzaufsicht.

Der Fall Wirecard hat die deutsche Finanzaufsicht, die BaFin, rund zehn Jahre nach der weltweiten Finanzkrise erneut zum Gegenstand öffentlicher Debatten gemacht. Es sind vornehmlich drei Fragen, die in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt werden: Warum stand nur ein so kleiner Teil der Wirecard AG unter der Aufsicht der BaFin? Warum vertraute die BaFin so sehr auf externe Berater? Und schließlich: Warum hat sie erst so spät und generell so zurückhaltend agiert?

Nach den öffentlich bekannten Informationen sind diese Fragen zweifellos berechtigt. Sie offenbaren allerdings zugleich strukturelle Besonderheiten der Finanzaufsicht, die es bei der Suche nach Antworten und möglichen Reformen zu berücksichtigen gilt. Wie schon in der Finanzkrise sind die Zusammenhänge also komplexer, als sie auf den ersten Blick erscheinen. Damit soll allerdings nicht behauptet werden, dass der BaFin keinerlei Vorwurf gemacht werden könnte.

Warum stand nur ein so kleiner Teil der Wirecard AG unter der Aufsicht der BaFin?

Die BaFin beaufsichtigt den Finanzdienstleistungsbereich. Die Wirecard AG ist ein komplex strukturiertes Unternehmen mit zahlreichen Tochterfirmen. Sie bietet Dienstleistungen u.a. in den Bereichen mobiles Bezahlen, E-Commerce sowie Digitalisierung des Einzelhandels an. Nicht jeder dieser Bereiche ist unmittelbar dem Finanzdienstleistungsbereich zuzuordnen, eine Banklizenz im klassischen Sinne besaß allein die Wirecard Bank AG. Nur diese Tochterfirma wurde daher direkt von der BaFin beaufsichtigt.

Dabei muss man wissen, dass die BaFin nicht frei darüber entscheiden kann, welche Unternehmen sie beaufsichtigt. Da die Beaufsichtigung einen Grundrechtseingriff darstellt, muss ihr Umfang durch den Gesetzgeber bestimmt werden. Das ist zwar in anderen Aufsichtsbereichen, etwa der Gewerbeaufsicht, nicht anders.

Doch im Bereich der Finanzaufsicht gibt es die besondere Dynamik des Finanzsektors. Ihr läuft der Gesetzgeber fast schon zwangsläufig ständig hinterher. Aus dem Versuch, den dynamischen Markt zu definieren, den es zu beaufsichtigen gilt, sind immer längere und kaum noch verständliche Legaldefinitionen entstanden. Und doch erfassen diese nicht sämtliche Konstellationen. Der sog. Schattenbankenmarkt, auf den die Finanzaufsicht aus diesen Gründen keinen formalen Zugriff hat, ist weiterhin riesig. Wer sich einen Eindruck davon machen will, werfe einen Blick in § 1 Kreditwesengesetz.

Fast jedes Unternehmen ist auch auf dem Finanzmarkt tätig

Hinzu kommt, dass die Unternehmen sich durch geschickte Ausgliederungen und gesellschaftsrechtliche Konstruktionen der Aufsicht partiell entziehen können. Sollte dann aber nicht einfach jedes Unternehmen, das in irgendeiner seiner Tochterfirmen relevante Finanzdienstleistungen anbietet, vollständig von der BaFin beaufsichtigt werden?

Dieser naheliegende Vorschlag berücksichtigt - abgesehen von den damit einhergehenden personellen Anforderungen - nicht, dass es heute kaum noch größere Unternehmen gibt, die nicht in irgendeiner Form auch auf den Finanzmärkten tätig sind. Volkswagen hat ebenso eine eigene Bank wie praktisch jeder andere Autohersteller. Sollte die BaFin also den gesamten VW-Konzern beaufsichtigen? Wäre sie dann auch für die Aufdeckung des Dieselskandals verantwortlich gewesen?

Das Problem ist insofern die zunehmende Verflechtung der Finanz- und der Realwirtschaft, bei der darüber hinaus die Finanzwirtschaft stetig an Bedeutung gewinnt. Bei einigen realwirtschaftlichen Unternehmen wie General Motors generiert die hauseigene Bank mittlerweile den größten Umsatzanteil. Risiken können dadurch aber zugleich von der einen Seite zur anderen wandern. Dass Wirecard nur zum Teil beaufsichtigt wurde, ist damit ebenso nachvollziehbar wie potenziell gefährlich. Eventuell – das müsste geklärt werden – hätte die BaFin umfassender beaufsichtigen können. An dem strukturellen Problem ändert das nichts.

Warum vertraute die BaFin so sehr auf externe Berater?

Die BaFin hat ihre Aufsichtstätigkeit partiell ausgegliedert. Im Zusammenhang mit Wirecard ist vor allem der Wirtschaftsprüfer Ernst & Young in den Fokus geraten. Die Abhängigkeit der BaFin von externen privaten Prüfern wurde in der Öffentlichkeit bisweilen mit einer gewissen Überraschung zur Kenntnis genommen: Warum macht sie das nicht einfach selbst?

Angesichts der Komplexität der Finanzmärkte ist die Finanzaufsicht allerdings seit jeher und in vielen Bereichen auf externe Expertise angewiesen. Personell wie finanziell wäre sie zu einer eigenständigen und umfassenden Prüfung schlicht nicht in der Lage. In der Finanzkrise waren es die drei großen privaten Rating-Agenturen, die negativ auffielen, als sie mit ihren positiven Bewertungen der zahlreichen Schrottpapiere einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenbruch der Finanzmärkte leisteten.

Auch damals hätte die Finanzaufsicht nicht aus eigener Kraft die relevanten Finanzprodukte einer eigenen Risiko-Bewertung unterziehen können und noch heute vertraut die BaFin in vielen Fällen den internen Risikomodellen der Finanzinstitute. Hier muss die BaFin insofern zu einem gewissen Grad der Integrität der externen Prüfer vertrauen. Dass dieses Vertrauen schnell enttäuscht werden kann, leuchtet ein.

Warum hat die BaFin erst so spät und zurückhaltend agiert?

Der Finanzsektor ist mittlerweile auch in Deutschland ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Finanzinnovationen und neue Dienstleistungen sind daher auch politisch erwünscht und werden entsprechend gefördert. Gerade bei vermeintlich neuen und innovativen "Global Playern" steht die Finanzaufsicht unter großem Druck, diese nicht durch eine zu strenge Beaufsichtigung an ihrem weltweiten Erfolg zu hindern. Eine "proaktive Aufsicht" wird jedenfalls von politischer Seite meist erst nach einem Skandal gefordert – und auch diese Stimmen verstummen anschließend schnell. Gerade in Boomzeiten gilt eine solche Aufsicht hingegen eher als störend und unnötig übervorsichtig, ja als Wettbewerbsnachteil.

Auch Wirecard wurde von politischer Seite offenkundig sowohl vom Finanzministerium als auch vom Bundeskanzleramt wohlwollend unterstützt. In einem solchen Umfeld kann es für eine Finanzaufsicht leichter sein, mit dem Strom zu schwimmen, sich zurückzuhalten und darauf zu vertrauen, dass alles gut gehen wird. Immerhin stand Wirecard im geschäftlichen Kontakt zu rund 280.000 Unternehmen. Ein fehlerhaftes, eventuell sogar öffentliches Einschreiten der Aufsicht könnte beachtliche ökonomische Folgen und Reputationsverluste für den Finanzstandort Deutschland nach sich ziehen. Die massive Kritik auch der politischen Ebene wäre der Finanzaufsicht sicher.

Hinzu kommt eine zweite Besonderheit, die zu einer gewissen Zurückhaltung der Finanzaufsicht führen kann: die personelle Verflechtung. Ein großer Teil der Finanzaufsichtsmitarbeitenden war zuvor auf den Finanzmärkten tätig. Es bestehen vielfältige persönliche Kontakte, die auch nach dem "Seitenwechsel" aufrechterhalten werden. Der Sache nach sind solche Wechsel nicht zu verhindern. Erneut führt die besondere Komplexität der Materie dazu, dass kaum jemand in der Lage wäre, Finanzinstitute ohne interne Einblicke in deren Funktionsweise effektiv zu beaufsichtigen. Oftmals sind es aber gerade die persönlichen Bekanntschaften, die einer denkbaren effektiven Aufsicht dann entgegenstehen. Damit soll an dieser Stelle kein pauschaler Vorwurf gegen die Mitarbeitenden der BaFin erhoben werden. Es geht vielmehr darum, auf das strukturelle Problem aufmerksam zu machen.

Was tun?

Finanzminister Olaf Scholz hat bereits Reformen angekündigt. Diese werden aber nur von Erfolg gekrönt sein, wenn die hier skizzierten strukturellen Besonderheiten der Finanzaufsicht berücksichtigt werden. In allen drei Bereichen sind Verbesserungen möglich.

So wird man zuerst prüfen müssen, inwieweit man der BaFin unter Wahrung des Gesetzesvorbehalts eine größere Flexibilität im Hinblick auf die Aufsichtsobjekte einräumen kann. Sodann wird es darum gehen, die Vertrauenswürdigkeit der notwendigen externen Berater zu sichern. Dass die BaFin auf Berater vertraut bzw. vertrauen muss, die von dem zu beaufsichtigenden Unternehmen bezahlt werden, ist nur schwer nachvollziehbar. Hier wiederholen sich im Übrigen Fehlkonstruktionen, die in der Finanzkrise 2007/2008 auch bei den Rating-Agenturen festgestellt, bis heute jedoch nur partiell behoben worden sind.

Drittens bedarf es von politischer Seite eines Kulturwechsels: Eine proaktive Finanzaufsicht darf nicht erst in einer Krise oder nach einem Skandal eingefordert werden – mit allen ökonomischen Konsequenzen, die damit einhergehen, einschließlich des Risikos eines zu frühen Einschreitens im Sinne eines finanzaufsichtlichen Vorsichtsprinzips. Das ist nicht leicht, die Finanzaufsicht leidet hier unter dem gleichen Präventionsparadox, das uns gerade in der Coronakrise begegnet.

Schließlich sollte über Möglichkeiten diskutiert werden, die personelle Verflechtung der Finanzbranche mit der Aufsicht zu reduzieren. Absolute Sicherheit vermag zwar auch eine perfekt organisierte Finanzaufsicht nicht zu gewährleisten. Solange aber Verbesserungspotenzial besteht, sollte es genutzt werden, auch wenn dies einiges an Geld kosten dürfte.

Der Autor Dr. Alexander Thiele vertritt zur Zeit einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen und hat sich mit einer Arbeit zur Finanzaufsicht habilitiert. 
Mit Materialien der dpa 

Zitiervorschlag

Nach dem Fall Wirecard: . In: Legal Tribune Online, 05.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42412 (abgerufen am: 02.11.2024 )

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