Ein neues Wahlrecht für den Bundestag war überfällig. Der Entwurf der Ampelkoalition löst das Problem des XXL-Bundestages. Er könnte aber an inneren Inkonsistenzen scheitern, meint Sebastian Roßner - und zwar rechtlich wie politisch.
Sie ist da: die Wahlrechtsreform. Sie erreicht auch ihr selbstgesetztes Ziel, nämlich zu verhindern, dass der Bundestag immer weiter wächst, was eine Konsequenz des bisherigen Wahlrechts ist.
Und wir haben allzu lange gewartet. Bereits 2016 hatte der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert verlangt, der Gesetzgeber müsse gegensteuern, denn angesichts sinkender Zweitstimmenanteile von Union und SPD war absehbar, dass es zu mehr Überhang- und daher auch zu mehr Ausgleichsmandaten kommen würde - mit der Folge eines rekordverdächtig wachsenden Bundestages.
Nun also endlich alles gut? Leider nicht ganz.
Wahlkreisgewinner ziehen womöglich doch nicht in den Bundestag ein
Der Entwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (BWahlG) bringt, wenn nicht einen Wechsel der Legitimationsgrundlage für Mandate, so doch mindestens eine deutliche Verschiebung.
Bislang gilt, dass jeder gewählte Wahlkreisbewerber auch in den Bundestag einzieht, eben kraft der Wahlentscheidung im Wahlkreis. Insofern enthält das gegenwärtige Wahlrecht ein deutliches Element der Mehrheitswahl. Das Prinzip der Verhältniswahl wird bisher erst auf einer zweiten Ebene dominant, auf der nämlich die politischen Mehrheitsverhältnisse im Bundestag an den Proporz der Zweitstimmen angepasst werden, indem Überhangmandate einer Partei durch Ausgleichsmandate für die übrigen Parteien ausgeglichen werden.
Nach dem neuen Wahlrecht wird die Entscheidung, die die Wähler im Wahlkreis mit ihrer Erststimme treffen, in ihrer Bedeutung herabgestuft. Sie stellt keine eigenständige Legitimationsgrundlage für den gewählten Wahlkreisbewerber mehr dar, denn Direktkandidaten einer Partei ziehen maximal in der Zahl in den Bundestag ein, die dem von ihrer Partei gewonnenen Zweitstimmenanteil entspricht. Überhangmandate entstehen nicht mehr, weil die „überhängenden“ Wahlkreissieger mit dem niedrigsten prozentualen Wahlergebnis kein Mandat erhalten und der Wahlkreis unbesetzt bleibt. Die Erststimme stellt so kein eigenständiges Legitimationsinstrument mehr dar, sondern sorgt nur dafür, dass der Wahlkreissieger anstelle eines Bewerbers auf der Liste derselben Partei eine Mandat erhält.
Die hauptsächliche Legitimationsgrundlage - auch für Mandate im Wahlkreis - ist somit zukünftig die Zweitstimme. Im Vergleich zum bisherigen Wahlrecht greift damit das Prinzip der Verhältniswahl nicht erst auf einer zweiten Ebene des Ausgleichs der politischen Kräfteverhältnisse, sondern bereits zuvor auf der Ebene der ursprünglichen Sitzzuteilung.
Grundsätzlich kann man die Verhältniswahl stärken, aber...
Verfassungsrechtlich ist es grundsätzlich zulässig, die Verhältniswahl deutlich stärker zu gewichten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat immer wieder die Freiheit des Wahlgesetzgebers betont, sich zwischen verschiedenen Wahlrechtsmodellen zu entscheiden (bereits seit Urt. v. 05.04.1952, Az. 2 BvH 1/52, ausdrücklich etwa auch in Urt. v. 25.07.2012, Az. 2 BvF 3/11 u.a.).
Allerdings taucht in der Rechtsprechung gleichzeitig mit der Gestaltungsfreiheit auch das Gebot an den Gesetzgeber auf, das Wahlrecht dann folgerichtig auszugestalten. Das Gericht formulierte dazu im Jahr 2008: „Er [scil. der Gesetzgeber] muss, wenn er sich für ein Wahlsystem entschieden hat, die im Rahmen des jeweiligen Systems geltenden Maßstäbe der Wahlgleichheit beachten […].“ (Urt. v. 13.02.2008, Az. 2 BvK 1/07).
Der Teufel steckt hier im Detail, denn das Gebot der Folgerichtigkeit, welches ein Ausdruck der Wahlgleichheit ist, erfordert, das gesamte wahlrechtliche System zu prüfen - und zwar in Bezug darauf, welche möglichen tatsächlichen Auswirkungen es auf Wahlentscheidungen und -ergebnisse hat.
Streichung der Grundmandatsklausel könnte dramatische Konsequenzen haben
An wichtigen Details fällt zunächst auf, dass nach dem jüngsten Reformvorschlag, der LTO vorliegt, und der in den Fraktionen wohl erst am 14. März, also nur drei Tage vor der für den 17. März geplanten dritten Lesung, vorgestellt wurde, die bisher geltende Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 3 S. 1 BWahlG) gestrichen werden soll. Die Grundmandatsklausel besagt, dass Parteien auch dann mit der Sitzzahl in den Bundestag einziehen, die ihnen nach dem Proporz der Zweitstimmen zusteht, obwohl sie unter der Fünf-Prozent-Hürde bleiben, sofern sie mindestens in drei Wahlkreisen ein Direktmandat erringen.
Die Streichung der Grundmandatsklausel kann dramatische Konsequenzen haben. Denn da nach dem Entwurf Parteien nur so viele Direktmandate erhalten, wie ihnen nach dem Zweitstimmenanteil zustehen, kann eine Partei mit weniger als fünf Prozent der Zweitstimmen den Einzug in den Bundestag vollständig verfehlen, obwohl sie eine Vielzahl von Direktmandaten gewonnen hat. Gegenwärtig würde das neue Wahlrecht dazu führen, dass etwa Die Linke mit gegenwärtig drei gewonnenen Wahlkreisen und 4,9 Prozent der Zweitstimmen nicht im Bundestag vertreten wäre. Bedroht ist in Zukunft aber auch die CSU, die bei der Bundestagswahl 2021 zwar 45 von 46 bayerischen Wahlkreisen gewonnen, aber mit 5,2 Prozent nur einen gefährlich niedrigen Zweitstimmenanteil erzielt hat.
Das bayerische Szenario einer CSU, die zwar über vierzig Wahlkreise gewinnt, aber nicht im Bundestag vertreten ist, zeigt das Problem der neuen Regelung: Wahlkampf und Wahlentscheidung in den Wahlkreisen wären vollständig entwertet, die lokale demokratische Kraftanstrengung umsonst. Ein solches Ergebnis läge zwar in der Konsequenz des neuen Wahlrechts, das sich eben stark an der Verhältniswahl orientiert. Es stünde aber im Widerspruch zur äußeren Form des Wahlrechts, welches mit eigenen Wahlkreisbewerbern, Wahlkampf im Wahlkreis und der Wahl nach Erst- und Zweitstimme eine derartige Diskrepanz von Wahlhandlung und Wahlergebnis als fernliegend erscheinen lässt. Dieser Gesichtspunkt hat Gewicht in Bezug auf die legitimierende Wirkung, die Wahlen entfalten sollen.
Parteilose kämen besser Weg als Wahlkreisgewinner der Parteien
Zudem sieht das BVerfG neben der Legitimations- auch die Integrationsfunktion von Wahlen als wesentlich an, die darin besteht, allen wichtigen Anliegen eine politische Berücksichtigung zu verschaffen. Hier hat das Gericht den Wahlkreisabgeordneten eine wichtige Aufgabe zugemessen (Urt. v. 25.07.2012, Az. 2 BvF 3/11 u.a.). Die nicht unrealistische Möglichkeit, dass die Wahlkreisabgeordneten für fast ein ganzes Bundesland wegfallen, könnte die Integrationsfunktion wesentlich beeinträchtigen und den Gesetzentwurf verfassungswidrig machen.
Hinzu tritt, dass - wie bisher - auch unabhängige, das heißt nicht von einer Partei nominierte Wahlkreisbewerber in den Bundestag einziehen können, und zwar auf Grundlage lediglich des Sieges im Wahlkreis. Eine Deckung des Direktmandats durch Zweitstimmen scheidet bei unabhängigen Bewerbern naturgemäß aus. Das heißt, bei diesen Bewerbern behält die Erststimme, anders als bei den Parteibewerbern, ihre bisherige vollständig legitimierende Bedeutung. Darin dürfte eine nur schwer zu rechtfertigende Ungleichbehandlung liegen. Das Problem lässt sich auch nicht aus der Welt schaffen indem etwa die Möglichkeit parteiunabhängiger Kandidaturen gestrichen wird, da diese nach der Rechtsprechung des BVerfG verfassungsrechtlich geboten ist (Beschl. v. 09.03.1976, Az. 2 BvR 89/74).
Die Möglichkeit einer unabhängigen Kandidatur käme, zumindest als Gedankenspiel, in Zukunft auch für von der Fünf-Prozent--Sperrklausel bedrohte Wahlkreissieger der CSU in Betracht. Sie zögen dann ungeachtet des Zweitstimmenergebnisses ihrer Partei in den Bundestag ein. Zu einem flächendeckenden Phänomen dürfte die unabhängige, aber von der Partei unterstützte Wahlkreiskandidatur aber wohl nicht werden. Dagegen spricht schon die Schwierigkeit, eine solche erkennbar von Angst getriebene Maßnahme politisch zu vermitteln. Auch stellt sich die Frage, ob nicht eine rechtsmissbräuchliche Umgehung der Regeln für Parteibewerber vorliegt.
Auch Kleinparteien müssten Federn lassen
Aber nicht nur Parteien mittlerer Größe wie CSU oder Linke sind potentiell negativ betroffen. Auch Kleinparteien müssen dem Entwurf nach Federn lassen. Nach § 20 Abs. 2 S. 2 BWahlG-Entwurfdürfen Parteien in Zukunft nur noch dann Wahlkreisbewerber aufstellen, wenn sie zugleich eine Landesliste aufstellen. Das ist wegen der oben beschriebenen Bindung der Direktmandate an das Zweitstimmenergebnis konsequent, stellt aber für Kleinparteien ein besonderes Problem dar. Denn Parteien, die nicht in Bundestag oder einem Landtag vertreten sind, müssen bis zu 2.000 Unterstützungsunterschriften von Bürgern einsammeln, die im jeweiligen Land wahlberechtigt sind, um eine Landesliste einreichen zu können. Daher weichen kleine Parteien oft darauf aus, nur Wahlkreisbewerber aufzustellen - und zwar dort, wo die lokalen Parteiorganisationen hinreichend stark sind, um die für eine Direktkandidatur nötigen 200 Unterstützungsunterschriften zu sammeln.
Diese Möglichkeit, als Partei an Wahlen teilzunehmen und so sichtbar zu werden, soll in Zukunft wegfallen. Angesichts der verfassungsrechtlichen Bedeutung, die einem Parteiensystem zukommt, das für neue Wettbewerber offen ist, sollte dann wenigstens im Rahmen des neuen Wahlgesetzes die Zahl der Unterstützungsunterschriften für die Einreichung von Landeslisten gesenkt werden.
Doch auch aussichtsreiche Wahlkreisbewerber müssen umdenken. In Zukunft kann das entscheidende Problem darin liegen, mehr Prozente zu erlangen als der ebenfalls aussichtsreiche Parteifreund in einem anderen Wahlkreis. Besonders in kleinen Ländern, wie etwa den Stadtstaaten, die nur wenige Wahlkreise umfassen, kann es so zu einer indirekten Konkurrenzsituation kommen, in der mit dem Kandidaten des Nachbarwahlkreises um das letzte vom Zweitstimmenanteil gedeckte Direktmandat gekämpft wird.
Teils wütende Oppositionskritik nicht ganz unbegründet
So ist der teilweise wütend vorgetragene Protest der Opposition nicht ganz unbegründet, wenn er auch bei manchen Protagonisten mit einer gehörigen Prise Heuchelei daherkommt. Besonders die Vertreter der CSU müssen sich vorhalten lassen, dass auch nach dem Landtagswahlrecht in Bayern siegreiche Wahlkreiskandidaten, deren Partei an der Fünf-Prozent--Sperrklausel scheitert, kein Mandat erhalten. Vor allem hatten die Unionsparteien mit 16 Jahren an der Regierungsspitze mehr als genug Zeit, das Bundestagswahlrecht zu reformieren. An entsprechenden Mahnungen fehlte es nicht.
Rechtlich stünde der Entwurf – lässt man einmal das mögliche Problem mit der Integrationsfunktion der Wahlen beiseite – besser dar, wenn er auf Wahlkreiskandidaturen und Erststimme gänzlich verzichtete und den letzten Schritt zu einem reinen Listenwahlrecht machte. Allerdings würde dies den Kampf der Parteien ums Wahlrecht noch weiter intensivieren und das stark auf Kompromiss und Konsens bauende deutsche politische System empfindlich stören.
Aber auch die Lebensdauer des weniger radikalen neuen Bundestagswahlrechts könnte knapp bemessen sein. Selbst wenn es die mit Sicherheit kommende Prüfung vor dem BVerfG einigermaßen unbeschadet überstehen sollte, dürfte eine Änderung ganz oben auf der Agenda der Unionsparteien stehen für den Fall, dass sie wieder Regierungsverantwortung im Bund übernehmen.
Insgesamt muss das Wahlrecht auf einem breiten politischen Konsens beruhen, der auch die kommende Wahl übersteht. Es soll um den Ball, nicht um die Spielregeln gekämpft werden.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt in der Kanzlei LLR Rechtsanwälte in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
Grundmandatsklausel und Parteilose: . In: Legal Tribune Online, 15.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51321 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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