Trotz wachsender Kritik an Israels Kriegsführung hält die Bundesregierung an der Genehmigung von Waffenexporten fest. Per Eilantrag beim VG Berlin wollen drei Palästinenser diese Praxis beenden. Hat der Antrag Aussicht auf Erfolg?
Ob Israel in Gaza aktuell Kriegsverbrechen oder gar einen Völkermord begeht, ist international umstritten. Befeuert wurde die Diskussion am Montag, als bekannt wurde, dass sieben Mitarbeiter der NGO World Central Kitchen durch einen israelischen Drohnenangriff auf einen Konvoi von Lebensmitteltransportfahrzeugen getötet wurden. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu nannte dies einen tragischen Fehler und versprach Aufklärung. Am Freitag gab das Militär bekannt, zwei Kommandeure wegen Missachtung von Befehlen in diesem Zusammenhang entlassen zu haben. Weil die Fahrzeuge der NGO markiert waren und die Route in Absprache mit dem israelischen Militär als gesichert galt, sehen Kritiker in dem dreifachen Beschuss ein eindeutiges Kriegsverbrechen, jedenfalls einen Verstoß gegen humanitäres Völkerrecht.
Ob es sich dabei um ein Versehen oder um ein Kriegsverbrechen handelt, lässt sich auf Grundlage der derzeitigen Informationen nicht abschließend beurteilen. Das gleiche gilt für die Frage, ob Israels Kriegstaktik insgesamt – die in einem halben Jahr nach Angaben des Gaza-Gesundheitsministeriums etwa 33.000 Menschen das Leben gekostet hat – gegen die Völkermord-Konvention verstößt. Darüber wird der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem von Südafrika Ende Dezember angestoßenen Hauptsacheverfahren entscheiden müssen, das wird aber Jahre dauern.
In der Zwischenzeit stellt sich für Länder wie Deutschland und die USA die Frage: Dürfen wir Israel weiter mit Waffenlieferungen unterstützen, wenn Vorwürfe von Kriegsverbrechen und Völkermord im Raum stehen? Die Bundesregierung bejaht das und hält weiter an ihren Waffenexporten fest. 2023 genehmigte die Bundesregierung Exporte von Kriegswaffen im Wert von 20 Millionen Euro an Israel, darunter 3.000 tragbare Panzerabwehrwaffen und 500.000 Schuss Munition für Pistolen und Gewehre. Die meisten Exporte entfallen auf die Zeit nach dem 7. Oktober.
Ein Kollektiv von sieben Berliner Rechtsanwälten um Ahmed Abed und Nadija Samour will die Waffenlieferungen nun auf dem Rechtsweg stoppen. Am Freitag haben sie im Namen dreier Palästinenser einen entsprechenden Eilantrag beim Verwaltungsgericht (VG) Berlin gestellt. Unterstützt werden sie vom European Legal Support Center, dem Palestine Institute for Public Diplomacy, Law for Palestine, der Recherchegruppe Forensic Architecture u.a. Menschenrechtsorganisationen mit Fokus auf den Rechter von Palästinensern.* Das teilten die Organisationen in einer gemeinsamen Erklärung mit.
Verstößt Deutschland gegen Völkerrecht?
Mit dem Antrag soll die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet werden, "Genehmigungen von Waffenlieferungen an den Staat Israel […] vorläufig zu versagen sowie bereits erteilte Genehmigungen von Waffenlieferungen […] zu widerrufen".
Grundlage für diesen Anordnungsanspruch sollen die §§ 6, 7 Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffKontrG) bilden. § 6 Abs. 3 Nr. 2 verbietet die Genehmigung von Exporten u.a. für den Fall, dass "Grund zu der Annahme besteht, daß die Erteilung der Genehmigung völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik verletzen oder deren Erfüllung gefährden würde". Gemäß § 7 Abs. 2 ist eine bereits erteilte Genehmigung dann zu widerrufen.
Im Ausgangspunkt fordert das Gesetz also eine mögliche Verletzung eigener völkerrechtlicher Verpflichtungen durch die Bundesrepublik. Im Zusammenhang mit Waffenlieferungen an andere Staaten geht es dabei aber faktisch um eine Art "Komplizenschaft" an fremden Völkerrechtsverstößen. Die Antragsschrift, die LTO vorliegt, wirft Deutschland insofern u.a. Beteiligung am Völkermord sowie Verstöße gegen die Genfer Konventionen und den Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty, ATT) vor. Die Vorwürfe decken sich zum Teil mit denen, die Nicaragua vor dem IGH gegen Deutschland erhebt. Hier finden die Anhörungen am Montag und Dienstag statt.
Was eine Beteiligung am Völkermord angeht, stützt sich die Antragsschrift u.a. auf die Eilentscheidung des IGH vom 26. Januar im Rahmen des von Südafrika gegen Israel initiierten Völkermord-Verfahrens.
Was aus den IGH-Eilentscheidungen folgt – und was nicht
Dort betonten die Richter Israels Verpflichtung, sicherzustellen, dass es nicht gegen die Völkermord-Konvention verstößt. Zudem gab das Gericht Israel auf, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen, stärker gegen Aussagen eigener Politiker oder Militärs vorzugehen, die als Aufruf zum Völkermord verstanden werden können, sowie einen Bericht über die ergriffenen Maßnahmen vorzulegen. In der Begründung der Entscheidung stellte die Mehrheit der Richter klar, dass sie es für plausibel halten, dass Israels Kriegsführung Rechte der Palästinenser verletzt, die unter der Völkermordkonvention geschützt sind. Zweifelhaft ist insbesondere die für alle Varianten des Völkermords erforderliche Absicht, den Teil einer bestimmten Volksgruppe – hier die Palästinenser in Gaza – "als solche" auszulöschen.
In der Antragsschrift argumentieren die Anwälte nun: Da der IGH es für plausibel halte, dass Israel in Gaza einen Völkermord an den Palästinensern begehe, bestehe "Grund zur Annahme", dass sich Deutschland durch die Waffenexportgenehmigungen der Beihilfe schuldig mache.
Am 28. März entschied der IGH erneut über einen Eilantrag Südafrikas in demselben Verfahren. Dazu kam es aufgrund der erheblichen Verschlechterung der humanitären Lage in Gaza seit der ersten Entscheidung, insbesondere in der Grenzstadt Rafah, wo Israel eine Bodenoffensive plant. Auch die jüngeren Berichte über eine akute Hungersnot nötigten den IGH dazu, seine Forderungen an die Netanjahu-Regierung zu präzisieren: Er ordnete an, Israel müsse mehr Grenzübergänge für längere Zeiträume öffnen, um die hinreichende Versorgung der Bevölkerung in Gaza mit Wasser, Nahrung, Medizin und anderen Hilfsgütern zu ermöglichen.
Experten sind skeptisch, ob sich aus diesen Entscheidungen eine Pflicht Deutschlands ergeben soll, die Waffenexporte zu unterbinden. "Denn es steht weiterhin nur die Plausibilität des Genozidvorwurfs im Raum", sagt der Göttinger Professor für Straf- und Völkerrecht Kai Ambos auf LTO-Anfrage. Der Umstand, dass Richter des IGH einen Völkermord für plausibel halten, müsse der Bundesregierung aber Anlass geben, "genauer hinzusehen". Ähnlich sieht es Stefan Oeter, Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Uni Hamburg. Der Maßstab, den der IGH in dem Eilverfahren angelegt habe, sei zu niedrig, um einen "Grund zur Annahme" einer Beihilfe zum Völkermord zu begründen. Strafrechtsprofessor Bernd Heinrich, der an der Uni Tübingen auch zum Kriegswaffenrecht forscht, weist gegenüber LTO darauf hin, dass die Ausführungen der IGH-Richter "von äußerster Vorsicht geprägt zu sein scheinen".
Entscheidet das VG Berlin wie der Gerechtshof Den Haag?
Für Kriegsverbrechen könnte die Sache anders aussehen. Diese sind nicht so schwer nachzuweisen wie eine genozidale Absicht. Ein Kriegsverbrechen kann unterschiedliche Formen annehmen, es erfordert in der Regel "nur" den Vorsatz, das Kriegsvölkerrecht zu verletzen. Dazu ergeben sich aber keine Anhaltspunkte aus den Entscheidungen des IGH, denn Südafrikas Klage stützt sich nur auf die Völkermordkonvention. Aber nach der Intention des KrWaffKontrG dürfte nicht jeder Anhaltspunkt eines Kriegsverbrechens ausreichen, um eine Pflicht zu begründen, Waffenlieferungen zu stoppen.
Zu bejahen wäre das, "wenn Israel erkennbar in großem Stil Kriegsverbrechen begehen würde und Deutschland mit den Waffenlieferungen wissentlich Beihilfe zur Begehung dieser Verbrechen leisten würde", sagt Oeter. Das "Abschnüren des Gazastreifens von Hilfslieferungen" könne man womöglich als Kriegsverbrechen werten, klare Anhaltspunkte für Kriegsverbrechen im Rahmen der militärischen Kriegsführung aus der Luft und am Boden sieht Oeter jedoch nicht. Diese Situation reiche nicht aus, um von einem Exportgenehmigungsverbot gemäß § 6 Abs. 3 Nr. 2 KrWaffKontrG auszugehen.
Ambos dagegen ist sich nicht so sicher und verweist auf das Urteil eines niederländischen Berufungsgerichts von Mitte Februar, auf das auch die Antragsschrift vor dem VG Berlin Bezug nimmt. Der Gerechtshof Den Haag hatte der niederländischen Regierung im Februar die Lieferung von Ersatzteilen für F-35-Kampfjets nach Israel untersagt.
Das Gericht hatte die Entscheidung maßgeblich darauf gestützt, dass der Verdacht von Kriegsverbrechen durch Israel bestehe und für die Niederlande deshalb die Gefahr bestehe, den Vertrag über den Waffenhandel zu verletzen, der Deutschland genauso bindet wie die Niederlande. Im Fall von Kriegsverbrechen ergebe sich ein Waffenlieferungsverbot aus Art. 6 Abs. 3 ATT, sagt Ambos. Demnach darf eine Vertragspartei keine Waffen liefern, wenn sie Kenntnis davon hat, dass die Waffen für die Ausübung eines Genozids, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwerwiegende Brüche der Genfer Konventionen oder Kriegsverbrechen verwendet werden. Nach Art. 7 Abs. 3 ATT haben Lieferungen auch dann zu unterbleiben, wenn der Staat ein hohes Risiko ("overriding risk") einer schweren Verletzung des humanitären Völkerrechts feststellt. Das hat der Gerechtshof Den Haag angenommen.
"Palästinensische Staatsbürgerin, derzeit obdachlos im Gazastreifen"
Ob das VG Berlin diese Frage anders beurteilen wird, ist völlig offen. Es hängt auch davon ab, wie das Gericht die Sachlage in Gaza einschätzt, und mithin davon, wie es die Glaubwürdigkeit der verschiedenen Informationsquellen bewertet.
Das VG könnte dieser Frage aber auch ausweichen und den Antrag an einem ganz anderen Punkt scheitern lassen: Selbst wenn man die Genehmigungspraxis der Bundesregierung für rechtswidrig hält, bedeutet das noch nicht automatisch, dass Einzelpersonen auf dem Klageweg einen Stopp der Exportgenehmigungen einklagen können. Ein Anspruch auf behördliches Einschreiten besteht nur, wenn die Ablehnung des Antrags Normen verletzen würde, die Drittschutz entfalten, und wenn der Antragsteller in den geschützten Personenkreis fällt.
Dazu haben sich die Menschenrechtsorganisationen Antragsteller aus Gaza gesucht: Laut Antragsschrift sind die drei Antragsteller Palästinenser und halten sich derzeit in Rafah auf. Ihre Anschrift: "derzeit obdachlos im Gazastreifen."
Die Anwälte argumentieren nun, die Lieferung von Kriegswaffen an Israel verletze die Antragsteller in ihren Menschenrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Bei Auslandssachverhalten treffe den deutschen Staat wenigstens eine Schutzpflicht. Drittschutz entfalte jedenfalls die Völkermordkonvention, die im Rahmen des Kriegswaffenkontrollgesetzes mittelbar zu prüfen sei.
Ob das VG Berlin das ebenso sehen wird, darf man durchaus mit Fragezeichen versehen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass das VG durch das begehrte Verbot, weitere Waffenexporte zu genehmigen, die Hauptsacheentscheidung im Eilverfahren vorwegnehmen würde. Dies ist nur ausnahmsweise zulässig. Die Voraussetzung, dass den Antragstellern bei weiterem Zuwarten erhebliche Nachteile entstehen würden, kann man wohl bejahen. Hinzukommen muss aber eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das Hauptsacheverfahren erfolgreich ist. Das ist angesichts des rechtlichen Neulands, das die Anwälte hier beschreiten, durchaus zweifelhaft – und könnte den Richtern des VG jedenfalls im Eilverfahren die Option geben, nicht über die unübersichtliche Sachlage in Gaza urteilen zu müssen.
* Diese Passage wurde nachträglich angepasst, weil sie missverständlich war: Antragsteller sind nicht die Organisationen, sondern die drei Palästinenser aus Gaza, vertreten durch sieben Rechtsanwälte aus Berlin.
Vorwurf israelischer Kriegsverbrechen in Gaza: . In: Legal Tribune Online, 05.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54267 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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