Erfasst das deutsche Strafrecht antisemitische Äußerungen hinreichend zielgenau? Das wollen fast alle Fraktionen im Bundestag überprüfen lassen. Im Fokus steht dabei die Volksverhetzung. Aber gibt es wirklich Schutzlücken?
Auf einer pro-palästinensischen Demonstration in München sagt ein Mann über den Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober, der sei "viel zu wenig", wenn man berücksichtige, was in den Jahren davor passiert sei. Eine Woche nach der Terrorattacke teilt der Fußballspieler Anwar El Ghazi in seiner Instagram Story einen einseitigen Beitrag über den Krieg in Gaza, den er beendet mit: "From the river to the sea, Palestine will be free." Obwohl diese Fälle bereits jetzt strafrechtlich verfolgt werden, werden Rufe nach einer Verschärfung des Strafrechts laut.
Der Bundestag überwies am Donnerstag – dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht 1938 – zwei Entschließungsanträge an den Innenausschuss, einen der Ampel-Fraktionen und einen der Unions-Fraktion. Beide Papiere fordern eine Überprüfung des geltenden Strafrechts darauf, ob es antisemitische Äußerungen hinreichend erfasst. Es geht vor allem um § 130 Strafgesetzbuch (StGB), Volksverhetzung. Während die Regierungskoalition erst mal prüfen lassen will, ob Strafbarkeitslücken bestehen, ist das für die Union schon "offen zutage getreten"; sie hat auch Antworten parat: Mit Blick auf die Volksverhetzung fordert die Union, Antisemitismus zu einem besonders schweren Fall zu machen – die Folge: mindestens sechs Monate Freiheitsstrafe.
Die Justizministerkonferenz formulierte das am Freitag vorsichtiger: Das Strafrecht müsse "den Gefährdungen des öffentlichen Friedens, die sich aus der Leugnung des Existenzrechts des Staates Israel ergeben können, ausreichend Rechnung tragen". Sollten sich Schutzlücken zeigen, werden die Justizminister der Länder zusammen mit dem Bundesjustizminister "Vorschläge zur Behebung dieser Lücken erarbeiten", so die Resolution. Die geht zurück auf einen Beschlussvorschlag von Hessens CDU-Justizminister Roman Poseck, der im Vorfeld gefordert hatte, die Leugnung des Existenzrechts Israels unter Strafe zu stellen. Eine Idee, die außerhalb der Union mit Skepsis beäugt wurde. In der SPD gibt es Sympathie für den Vorschlag des Antisemitismusbeauftragten Felix Klein und der Strafrechtsprofessorin Elisa Hoven (Uni Leipzig), den Anwendungsbereich von § 130 Abs. 1 StGB zu erweitern.
Aber wie groß ist das Problem, das durch die Verschärfungen der Volksverhetzung gelöst werden soll? Ist der strafrechtliche Schutz gegen Antisemitismus lückenhaft?
Schützt das Strafrecht nur lückenhaft vor antisemitischen Straftaten?
"Wir haben in Deutschland ein erhebliches Antisemitismusproblem. Wir sehen in den Kriminalitätsstatistiken schon seit Jahren eine Zunahme antisemitisch motivierter Straftaten. Den Großteil bilden allerdings Taten aus dem deutschen, rechtsextremen Milieu", sagt Strafverteidiger Dr. Lukas Theune, Geschäftsführer des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins (RAV). Das stützt eine aktuelle Statistik der Bundesregierung: Demnach ist die Anzahl antisemitischer Straftaten im dritten Quartal 2023 – also noch vor dem 7. Oktober – von 379 und 446 in den vorherigen Quartalen auf 540 gestiegen. 85 Prozent davon sind Taten der "politisch motivierten Kriminalität rechts" – ohne "ausländischen" oder "religiösen Hintergrund". Insofern sieht Theune keine Strafbarkeitslücke, sondern eher ein zu zögerliches Handeln der Ermittlungsbehörden.
Der Aussagegehalt der Kriminalitätsstatistiken ist allerdings umstritten. Laut einem Bericht der FAZ gibt es zwischen dem Bundeskriminalamt und den Landeskriminalämtern eine Abrede, "fremdenfeindliche sowie antisemitische Straftaten dem Phänomenbereich Rechts zuzuordnen, wenn sich aus den Umständen der Tat und/oder der Einstellung des Täters keine gegenteiligen Anhaltspunkte zur Tätermotivation ergeben". Diese Regelung will Bundesinnenministerin Faeser nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober streichen.*
Prof. Dr. Matthias Jahn, Strafrechtsprofessor an der Goethe-Universität in Frankfurt und Richter am dortigen Oberlandesgericht im Nebenamt, sieht ebenfalls keinen Regelungsbedarf. "Dass es Lücken gibt, die sich mit dem geltenden Recht nicht schließen lassen, halte ich empirisch für mindestens fraglich", so Jahn. Nach seiner jahrezehntelangen Erfahrung als Revisionsrichter lasse sich antisemitische Hetze regelmäßig als Volksverhetzung erfassen. Und wo der § 130 Strafgesetzbuch (StGB) nicht eingreife, habe dies gute Gründe.
Volksverhetzung will die Verbreitung gefährlicher Aussagen verhindern
Um diese Gründe einerseits und die Reformvorschläge andererseits zu verstehen, muss man sich die Vorschrift genauer ansehen. Es handelt sich um ein abstraktes Gefährdungsdelikt und ein Äußerungsdelikt zugleich, also eine Norm, die bestimmte Aussagen unter Strafe stellt, weil sie gefährlich sind. Dabei geht es aber nicht um Beleidigung oder Verleumdung (§§ 185 ff.), Anstiftung (§ 26) oder öffentliche Aufforderung (§ 111) oder Anleitung zu Straftaten (§ 130a). Auch die Bedrohung einer Person ist bereits anderswo (§ 241) geregelt.
Die gemeinsame Idee hinter den unterschiedlichen Straftatbeständen des § 130 StGB: Bestimmte Personengruppen sollen davor geschützt werden, dass das gesellschaftliche Klima zu ihren Ungunsten kippt. Die Volksverhetzung ist damit als Delikt mit drei Akteuren ausgestaltet. Beteiligt sind: der, der die Hetze betreibt; der oder die, gegen den/die sie sich richtet; und ein Publikum, das alles mit anhört oder -sieht.
Daraus ergibt sich nach umstrittener, aber überwiegender Auffassung ein abgestufter Schutzzweck: § 130 StGB will verhindern, dass eine abstrakt gefährliche Botschaft verbreitet wird. Eine Botschaft, die geeignet ist, das direkte Publikum oder weitere Empfänger zu Gewalt gegen die Betroffenen aufzustacheln. Ob eine Äußerung die Gefahr einer kippenden Stimmung tatsächlich erhöht, sollen Gerichte nicht im Einzelfall empirisch messen, schreibt Prof. Dr. Thomas Fischer auf LTO in Bezug auf die "Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören". Vielmehr plädiert er schon seit seiner Dissertation 1986 dafür, das heute in Abs. 1, 3, 4 und 5 enthaltene Merkmal als "Wertungsklausel zur Ausscheidung nicht strafwürdig erscheinender Fälle" zu verstehen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sah dies in seiner Wunsiedel-Entscheidung 2009 genauso.
Kein Inlandsbezug mehr?
Dieses Tatbestandsmerkmal ist Klein und Hoven ein Dorn im Auge. Denn die Rechtsprechung leitet daraus einen so genannten Inlandsbezug ab. Das heißt konkret: Weil mit dem öffentlichen Frieden nur die "Stimmung" in Deutschland gemeint ist, sollen auch nur solche Personen(gruppen) Opfer der Volksverhetzung sein können, die in Deutschland leben. Unter anderem deshalb scheidet auch eine Strafbarkeit wegen § 130 Abs. 1 StGB im Fall der Parole "From the river to the sea, Palestine will be free" aus. Wer die Parole, wie im Fall El Ghazi, schriftlich oder digital verbreitet, kann sich aber nach Abs. 2 strafbar machen. Zudem kommen künftig § 86a StGB und § 20 Abs. 1 Nr. 5 Vereingesetz in Betracht, nachdem das Bundesinnenministerium die Parole als solche der Hamas eingestuft hat.
Gleiches gilt für den Fall eines auf der Documenta 15 ausgestellten, weithin als antisemitisch geltenden Gemäldes, auf den Hoven in ihrer Studie hinweist. Die Staatsanwaltschaft hatte deshalb wegen Volksverhetzung ermittelt, das Verfahren aber schließlich u.a. mangels Inlandsbezugs eingestellt.
Das wollen Hoven und Klein ändern – durch Streichung des Merkmals der Eignung der Friedensstörung aus § 130 Abs. 1 StGB. Daneben sollen in Nr. 1 (Aufstacheln zum Hass durch öffentliche mündliche Hetze) das Merkmal der Öffentlichkeit und die Diskriminierungsmerkmale präzisiert werden. In Nr. 2 (menschenunwürdige Beleidigung oder Verleumdung) soll zudem das Merkmal "Angriff auf die Menschenwürde" gestrichen und durch spezifische Diskriminierungsmerkmale wie "antisemitisch" und "rassistisch" ersetzt werden.
"Was dann bleibt, ist eine Beleidigung mit Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten"
Lukas Theune begrüßt, dass der Entwurf die Diskriminierungsvarianten moderner formuliere, indem er betone, dass auch die Zuschreibung bestimmter Merkmale durch die Täter erfasst sei. Doch der Strafverteidiger warnt zugleich vor den Folgen einer ersatzlosen Streichung des Merkmals "Angriff auf die Menschenwürde" aus § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB, der die mündliche Hetze durch Beleidigung und Verleumdung erfasst. Geht durch die mehrfachen Streichungen nicht genau das Korrektiv verloren, das nach dem BVerfG dazu dient, "nicht strafwürdig erscheinende Fälle auszuscheiden"?
"Was dann noch bleibt, ist eine rassistische oder antisemitische Beleidigung, die dann mit Freiheitsstrafe von mindestens drei Monaten bestraft wird. Also härter als die Leugnung des Holocausts nach Absatz 3. Dann stehen die Varianten der Volksverhetzung völlig außer Verhältnis", so Theune zu Hovens Neuentwurf der Nr. 2.
Hinsichtlich Nr. 1 sind die Konsequenzen unübersichtlich: Die Variante des Aufstachelns würde sich durch die Streichung der Eignung zur Friedensstörung mit der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten (§ 111) und der Bedrohung (§ 241) überschneiden. Die neue Variante der Gewaltbilligung umgeht womöglich die Hürden des § 140 StGB.
"Die Volksverhetzung ist nicht umsonst ein Tatbestand mit vielen Voraussetzungen. Wenn man jetzt anfängt, einzelne ersatzlos zu streichen, dann ändert man die Deliktsnatur", kommentiert Matthias Jahn den Entwurf. Er hält zudem für problematisch, in beiden Varianten des Abs. 1 auf den Inlandsbezug zu verzichten. Eine Äußerung über einen politischen Konflikt im Ausland – möge ihr Inhalt noch so unsensibel, geschichtsvergessen und falsch sein – bleibe zu Recht straflos, wenn sie keine inländische Bevölkerungsgruppe betreffe. "Es fehlt der Bezug zum deutschen Strafrecht. Was soll dann das geschützte Rechtsgut sein: der Weltfrieden?" Ohne Inlandsbezug seien das Delikt und seine Rechtsfolgen nicht mehr zu legitimieren.
"Staatsräson kein anerkanntes Rechtsgut"
Aus diesem Grund lehnt Jahn sowohl den Neuentwurf des § 130 Abs. 1 StGB von Hoven als auch die Idee ab, die "Leugnung des Existenzrechts Israels" per se unter Strafe zu stellen. Der Strafrechtsprofessor weist darauf hin, dass es nach bestehender Rechtslage strafbar sein kann, die Legitimität des Staates Israels öffentlich anzuzweifeln. Aber eben nur, "wenn jemand gleichzeitig gegen Juden in Deutschland hetzt oder konkrete Hamas-Taten billigt." Nichts anderes steht im JuMiKo-Beschluss vom Freitag.
Eine Existenzrechtsleugnung ohne Gefahr für inländische Bevölkerungsgruppen widerspreche laut Jahn allein der von der Bundesregierung und vom Bundestag in seinem BDS-Beschluss von 2019 erklärten Staatsräson, an der Seite Israels zu stehen. Dies sei aber kein anerkanntes Rechtsgut. Insbesondere sei sie im Grundgesetz mit keinem Wort erwähnt, obwohl dieses fast genau ein Jahr nach der Gründung Israels in Kraft trat.
Das Grundgesetz sieht im Übrigen nicht vor, dass bestimmte Parolen oder Positionen verboten werden. Die Meinungsfreiheit darf gemäß Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz nur aufgrund eines "allgemeinen Gesetzes" beschränkt werden. Das ist ein Gesetz, das eine Meinung gerade nicht "als solche", also wegen ihres Inhalts, verbietet, sondern dem Schutz eines anderen Rechtsguts dient. Beispiele sind die Beleidigung, die Volksverhetzung gemäß den derzeitigen Abs. 1 und 2 des § 130 StGB. Die Holocaust-Leugnung gemäß Abs. 3 bemisst sich gar nicht an Art. 5 Abs. 2 Grundgesetz, da sie als falsche Tatsachenbehauptung von vornherein nicht dem Schutz der Meinungsfreiheit unterliegt.
Keine allgemeinen Gesetze sind dagegen die Holocaust-Billigung und -Verharmlosung und die NS-Verherrlichung in § 130 Abs. 3 und 4 StGB. Sie verbieten Meinungen als solche. Nach Auffassung des BVerfG in seiner Wunsiedel-Entscheidung sind diese Strafnormen dennoch verfassungsgemäß – weil das Grundgesetz einen Gegenentwurf zur NS-Willkürherrschaft darstelle. Aber ist das Grundgesetz auch als Gegenentwurf zu einer "Leugnung des Existenzrechts Israels" konzipiert?
Das hessische Justizministerium meint ja. Joachim Wieland, Professor für Öffentliches Recht an der Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, teilt diese Einschätzung. Jahn hingegen ist skeptisch: "Alle diese Äußerungen – auch klar israelfeindliche – sind, ob einem das gefällt oder nicht, in die Historie des Nahostkonflikts eingebettet. Da fehlt mir der klare Bezug zu Deutschland. Beim NS-Regime und dem Holocaust ist das offensichtlich anders. Die Wunsiedel-Rechtsprechung passt deshalb meines Erachtens nicht."
Einführung eines Regelbeispiels ist Symbolpolitik
Bei so vielen Unklarheiten mahnt Jahn zur Zurückhaltung mit Verschärfungen des Äußerungsstrafrechts: "Man muss eine ohnehin aufgeheizte Diskussion nicht auch noch mit schnellschussartig vorgelegten Vorschlägen befeuern."
Die Forderung der Union nach einem neuen Regelbeispiel für Antisemitismus halten Jahn und Theune mit Blick auf die aktuelle Rechtslage für unnötig: § 46 Abs. 2 StGB sieht schon heute vor, dass "rassistische, fremdenfeindliche, antisemitische, geschlechtsspezifische, gegen die sexuelle Orientierung gerichtete oder sonstige menschenverachtende" Beweggründe eine härtere Strafe rechtfertigen. Dass diese "Hate-Crime-Regelung" nicht als Regelbeispiel ausgestaltet ist, sondern als Strafzumessungsregel, mache praktisch keinen Unterschied. Sich für die Einführung eines Regelbeispiels auszusprechen, liegt zwar nicht fern, bleibt aber ohne echte Rechtsfolge. Der Vorschlag der Union ist also Symbolik.
* Absatz zur Einordnung nachträglich (13.11.2023, 9:13 Uhr) hinzugefügt. Auch die Zwischenüberschrift des Abschnitts, die die Statistik wiedergab, wurde geändert. (Red.)
Antisemitische Äußerungen bekämpfen: . In: Legal Tribune Online, 10.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53131 (abgerufen am: 24.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag