An der syrisch-türkischen Grenze droht die Eskalation. Ein Kampfflugzeug dringt in fremden Luftraum ein und wird abgeschossen, Truppen werden positioniert, der NATO-Rat einberufen. Der beschwichtigt vorerst und verhindert eine Zuspitzung des Konflikts. Welche Möglichkeiten der NATO-Vertrag dem Bündnis auch für das weitere Vorgehen gibt, erklärt Hans-Joachim Heintze.
Militärische Gewalt gegen die territoriale Unversehrtheit und die politische Unabhängigkeit eines Staates, verbietet die Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) allen Staaten. Da sich der abgeschossene Kampfjet nach Aussage des türkischen Militärs aber über der offenen See befand, ist dieser Grundsatz gar nicht verletzt. Der Luftraum über dem offenen Meer steht allen Staaten zur Nutzung, auch für nichtaggressive militärische Zwecke, offen und darf nicht unterbunden werden. Syrien behauptet allerdings, es habe das Flugzeug über syrischem Luftraum abgeschossen. Die Türkei habe die territoriale Integrität des syrischen Staatsgebiets also sehr wohl verletzt.
Nun ist jeder Staat zum Schutz seines Luftraums mit allen Mitteln berechtigt, solange er dabei verhältnismäßig vorgeht. Das ist beispielsweise niemals der Fall, wenn ein Passagierflugzeug aus welchen Gründen auch immer in fremden Luftraum eindringt. Nach dem Abschuss eines koreanischen Linienflugzeugs über der russischen Halbinsel Kamtschatka durch die Sowjetunion 1983 hat die Staatengemeinschaft dies ausdrücklich in das Chicagoer Abkommen über den Luftverkehr aufgenommen.
Dringt dagegen ein Kampfjet in den Luftraum eines fremden Staates ein, ist Maßstab die von dem Flugzeug ausgehende Bedrohung. Vor einem Abschuss muss versucht werden, durch Warnungen eine Kursänderung herbeizuführen. Glaubt man der Türkei, so befand sich der Jet unbewaffnet und auf einem Routineflug über der offenen See und wurde ohne Vorwarnung abgeschossen. Solche Flüge sind zulässig und jede Gewaltanwendung gegen diese eine Verletzung souveräner Rechte. Auf diesen Rechtsbruch kann der verletzte Staat mit Repressalien reagieren. Die Türkei kündigte "furchtbaren Zorn" an und verlegte Truppen an die Grenze zu Syrien – eine zulässige Reaktion, die der Verteidigung dient.
Zunächst nur Konsultationen
Die Türkei gehört aber auch dem Verteidigungsbündnis NATO an, weshalb sie den Konflikt vor den Rat des Bündnisses brachte. Der NATO-Vertrag sieht in Art. 4 vor, dass sich die Mitglieder konsultieren, wenn nach Auffassung eines "von ihnen, die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht ist". Der innerstaatliche Konflikt in Syrien hat mittlerweile eine internationale Dimension erreicht. Denn die Massenflucht destabilisiert Nachbarstaaten, Waffenlieferungen verschärfen die Kampfhandlungen und aggressive Handlungen wie der Abschuss des Kampfjets bedrohen die Sicherheit des NATO-Staates Türkei. Völlig zutreffend hat sich die Türkei nicht auf Art. 5 des Vertrags berufen, denn dieser setzt eine Angriffshandlung voraus, die dann durch die Mitgliedstaaten im Rahmen einer kollektiven Selbstverteidigung nach Art. 51 der UN-Charta beantwortet werden kann.
Wichtig ist aber, dass weder Art. 4 noch Art. 5 ein automatisches Eingreifen der NATO zur Folge haben. Vielmehr geht es ausschließlich um Konsultationen, in deren Rahmen die Mitgliedstaaten erörtern, wie sie angemessen und sinnvoll reagieren sollten. Bislang hat der NATO-Rat nur einmal den Bündnisfall ausgerufen: Das war nach den Terroranschlägen des 11. Septembers. Auch das führte allerdings nicht automatisch dazu, dass alle Mitgliedstaaten an der kollektiven Selbstverteidigung der USA gegen die Taliban in Afghanistan teilnahmen. Diesen Krieg führten die USA allein mit Großbritannien, andere Staaten wurden erst mit den ISAF-Truppen auf der Grundlage eines UN-Mandates und einer Einladung der afghanischen Übergangsregierung in den Wiederaufbau Afghanistans nach der Talibanherrschaft eingebunden.
Wenn die NATO aber selbst nach einem Terroranschlag auf einen ihrer Mitgliedstaaten nicht automatisch mit Waffengewalt antwortet, so sollte sie dies erst recht nicht bei bloßen Bedrohungen der äußeren Sicherheit eines Mitgliedes tun. Die Reaktion des NATO-Rates vom 26. Juni ist daher angemessen. Der Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen bezeichnete den Abschuss des türkischen Kampfflugzeugs als "inakzeptabel". Das Bündnis verurteile die Aggression in schärfster Weise. Letztlich setzt die NATO also darauf, den Druck auf das unhaltbare Regime des syrischen Präsidenten Assad zu erhöhen, und auf ein gemeinsames Vorgehen der Staaten im Rahmen der Vereinten Nationen.
Der Autor Prof. Dr. Hans-Joachim Heintze lehrt Völkerrecht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum.
Syrien schießt türkischen Kampfjet ab: . In: Legal Tribune Online, 29.06.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6503 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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